Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

heimische Gast ein. Wie wir aus der begrüßenden Anrede der Kellnerin
entnehmen, ist es der Herr "Kanzlist", ein urgemüthlich ausschauender Bieder¬
mann mit mächtigem grauen Knebelbart, in seinem ganzen Wesen einem
derben alten Förster gleichend. Er setzt sich uns gegenüber, und nachdem er
seine kurze Pfeife angezündet, versuchen wir, ein Gespräch mit ihm anzu¬
knüpfen. Allein er hört schwer, kann auch die norddeutsche Aussprache nicht
vertragen, und so waltet alsbald wieder unheimliche Stille. Eine Viertel¬
stunde später erscheint der Herr "Controlor", ein ausgemachter Bureaukrat
in mittleren Jahren. Er setzt sich zu unserer Rechten, ohne uns eines Blickes
zu würdigen. Wir reden ihn an, natürlich mit der in der ganzen civilisirten
Welt üblichen Einleitungsformel vom Wetter. Er mißt uns mit inquisito¬
rischem Blick vom Scheitel bis zur Zehe, fertigt uns kurz ab und beginnt
mit Stentorstimme eine Unterhaltung mit dem Herrn Kanzlist. Abermals
eine Viertelstunde später tritt der Herr "Bezirksrichter" ein, der jüngste von
den Dreien. Er setzt sich zu unserer Linken; vielleicht ist er von humanerer
Gemüthsart, als unser Nachbar zur Rechten; aber wir sind eingeschüchtert
und verharren in Schweigen. Zuletzt kommt auch der Herr Wirth, pflanzt
sich quer vor den Tisch, passt den Gästen seinen Knäller in's Gesicht und
spuckt ohne Unterlaß in kühnem Bogen bis mitten in die Stube. Und nun
rollt der Viersprach lustig dahin, von Holzverkauf und Holzdiebstahl, vom
demnächstigen Jahrmarkt und dem gestrigen "Concert" (eine herumziehende
Tingeltangelgesellschaft), vom Schluß des Weideganges u. s. w. Dazwischen,
sobald einer der Gäste das Letzte aus seiner Flasche gegossen, tönt die sonore
Frage der Kellnerin: "Trinken Sie noch a Wein?" So geht es bis gegen
9. Da erscheint in der Thür eine hagere Mannesgestalt, in Hemdärmeln,
wie weißem Schurz, ein langes Messer in der Rechten. Wir fahren zu¬
sammen; bei dem Halbdunkel des raucherfüllten Zimmers ist uns, als sähen
K>ir einen Geist. Aber der Herr Bezirksrichter erhebt sich mit dem fröhlichen
Ausruf: "Na, da wollen wir also unser Samstagsgeschäft absolviren", setzt
seinen Stuhl mitten in die Stube und läßt sich nach allen Regeln der Kunst
rasiren. Desgleichen die Anderen sLcunäum orämein. Diesen gewichtigen
Act vollendet, zieht sich Jeder in sichtlich befriedigter Stimmung noch ein
Viertel Rothen zu Gemüthe und Punkt 10 Uhr ist die ganze Honoratioren-
gesellschast verschwunden. Wir sind wieder allein, den Kopf schwer von dem
tückischen Tiroler Landwein und weit mehr noch von dem Qualm des k. k.
Knasters, aber wir tragen einen köstlichen Gewinn davon: wir sind eingeweiht
die tiefsten Mysterien des "Extrazimmers."

Wolle der geneigte Leser dies Genrebild nicht etwa als ein Erzeugniß
boshafter Phantasie betrachten; es ist baare Thatsache. Im Sommer würde
Ulan auf eine derartige Idylle natürlich verzichten müssen. Also ergiebt sich, daß


heimische Gast ein. Wie wir aus der begrüßenden Anrede der Kellnerin
entnehmen, ist es der Herr „Kanzlist", ein urgemüthlich ausschauender Bieder¬
mann mit mächtigem grauen Knebelbart, in seinem ganzen Wesen einem
derben alten Förster gleichend. Er setzt sich uns gegenüber, und nachdem er
seine kurze Pfeife angezündet, versuchen wir, ein Gespräch mit ihm anzu¬
knüpfen. Allein er hört schwer, kann auch die norddeutsche Aussprache nicht
vertragen, und so waltet alsbald wieder unheimliche Stille. Eine Viertel¬
stunde später erscheint der Herr „Controlor", ein ausgemachter Bureaukrat
in mittleren Jahren. Er setzt sich zu unserer Rechten, ohne uns eines Blickes
zu würdigen. Wir reden ihn an, natürlich mit der in der ganzen civilisirten
Welt üblichen Einleitungsformel vom Wetter. Er mißt uns mit inquisito¬
rischem Blick vom Scheitel bis zur Zehe, fertigt uns kurz ab und beginnt
mit Stentorstimme eine Unterhaltung mit dem Herrn Kanzlist. Abermals
eine Viertelstunde später tritt der Herr „Bezirksrichter" ein, der jüngste von
den Dreien. Er setzt sich zu unserer Linken; vielleicht ist er von humanerer
Gemüthsart, als unser Nachbar zur Rechten; aber wir sind eingeschüchtert
und verharren in Schweigen. Zuletzt kommt auch der Herr Wirth, pflanzt
sich quer vor den Tisch, passt den Gästen seinen Knäller in's Gesicht und
spuckt ohne Unterlaß in kühnem Bogen bis mitten in die Stube. Und nun
rollt der Viersprach lustig dahin, von Holzverkauf und Holzdiebstahl, vom
demnächstigen Jahrmarkt und dem gestrigen „Concert" (eine herumziehende
Tingeltangelgesellschaft), vom Schluß des Weideganges u. s. w. Dazwischen,
sobald einer der Gäste das Letzte aus seiner Flasche gegossen, tönt die sonore
Frage der Kellnerin: „Trinken Sie noch a Wein?" So geht es bis gegen
9. Da erscheint in der Thür eine hagere Mannesgestalt, in Hemdärmeln,
wie weißem Schurz, ein langes Messer in der Rechten. Wir fahren zu¬
sammen; bei dem Halbdunkel des raucherfüllten Zimmers ist uns, als sähen
K>ir einen Geist. Aber der Herr Bezirksrichter erhebt sich mit dem fröhlichen
Ausruf: „Na, da wollen wir also unser Samstagsgeschäft absolviren", setzt
seinen Stuhl mitten in die Stube und läßt sich nach allen Regeln der Kunst
rasiren. Desgleichen die Anderen sLcunäum orämein. Diesen gewichtigen
Act vollendet, zieht sich Jeder in sichtlich befriedigter Stimmung noch ein
Viertel Rothen zu Gemüthe und Punkt 10 Uhr ist die ganze Honoratioren-
gesellschast verschwunden. Wir sind wieder allein, den Kopf schwer von dem
tückischen Tiroler Landwein und weit mehr noch von dem Qualm des k. k.
Knasters, aber wir tragen einen köstlichen Gewinn davon: wir sind eingeweiht
die tiefsten Mysterien des „Extrazimmers."

Wolle der geneigte Leser dies Genrebild nicht etwa als ein Erzeugniß
boshafter Phantasie betrachten; es ist baare Thatsache. Im Sommer würde
Ulan auf eine derartige Idylle natürlich verzichten müssen. Also ergiebt sich, daß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0403" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137042"/>
          <p xml:id="ID_1271" prev="#ID_1270"> heimische Gast ein. Wie wir aus der begrüßenden Anrede der Kellnerin<lb/>
entnehmen, ist es der Herr &#x201E;Kanzlist", ein urgemüthlich ausschauender Bieder¬<lb/>
mann mit mächtigem grauen Knebelbart, in seinem ganzen Wesen einem<lb/>
derben alten Förster gleichend. Er setzt sich uns gegenüber, und nachdem er<lb/>
seine kurze Pfeife angezündet, versuchen wir, ein Gespräch mit ihm anzu¬<lb/>
knüpfen. Allein er hört schwer, kann auch die norddeutsche Aussprache nicht<lb/>
vertragen, und so waltet alsbald wieder unheimliche Stille. Eine Viertel¬<lb/>
stunde später erscheint der Herr &#x201E;Controlor", ein ausgemachter Bureaukrat<lb/>
in mittleren Jahren. Er setzt sich zu unserer Rechten, ohne uns eines Blickes<lb/>
zu würdigen. Wir reden ihn an, natürlich mit der in der ganzen civilisirten<lb/>
Welt üblichen Einleitungsformel vom Wetter. Er mißt uns mit inquisito¬<lb/>
rischem Blick vom Scheitel bis zur Zehe, fertigt uns kurz ab und beginnt<lb/>
mit Stentorstimme eine Unterhaltung mit dem Herrn Kanzlist. Abermals<lb/>
eine Viertelstunde später tritt der Herr &#x201E;Bezirksrichter" ein, der jüngste von<lb/>
den Dreien. Er setzt sich zu unserer Linken; vielleicht ist er von humanerer<lb/>
Gemüthsart, als unser Nachbar zur Rechten; aber wir sind eingeschüchtert<lb/>
und verharren in Schweigen. Zuletzt kommt auch der Herr Wirth, pflanzt<lb/>
sich quer vor den Tisch, passt den Gästen seinen Knäller in's Gesicht und<lb/>
spuckt ohne Unterlaß in kühnem Bogen bis mitten in die Stube. Und nun<lb/>
rollt der Viersprach lustig dahin, von Holzverkauf und Holzdiebstahl, vom<lb/>
demnächstigen Jahrmarkt und dem gestrigen &#x201E;Concert" (eine herumziehende<lb/>
Tingeltangelgesellschaft), vom Schluß des Weideganges u. s. w. Dazwischen,<lb/>
sobald einer der Gäste das Letzte aus seiner Flasche gegossen, tönt die sonore<lb/>
Frage der Kellnerin: &#x201E;Trinken Sie noch a Wein?" So geht es bis gegen<lb/>
9. Da erscheint in der Thür eine hagere Mannesgestalt, in Hemdärmeln,<lb/>
wie weißem Schurz, ein langes Messer in der Rechten. Wir fahren zu¬<lb/>
sammen; bei dem Halbdunkel des raucherfüllten Zimmers ist uns, als sähen<lb/>
K&gt;ir einen Geist. Aber der Herr Bezirksrichter erhebt sich mit dem fröhlichen<lb/>
Ausruf: &#x201E;Na, da wollen wir also unser Samstagsgeschäft absolviren", setzt<lb/>
seinen Stuhl mitten in die Stube und läßt sich nach allen Regeln der Kunst<lb/>
rasiren. Desgleichen die Anderen sLcunäum orämein. Diesen gewichtigen<lb/>
Act vollendet, zieht sich Jeder in sichtlich befriedigter Stimmung noch ein<lb/>
Viertel Rothen zu Gemüthe und Punkt 10 Uhr ist die ganze Honoratioren-<lb/>
gesellschast verschwunden. Wir sind wieder allein, den Kopf schwer von dem<lb/>
tückischen Tiroler Landwein und weit mehr noch von dem Qualm des k. k.<lb/>
Knasters, aber wir tragen einen köstlichen Gewinn davon: wir sind eingeweiht<lb/>
die tiefsten Mysterien des &#x201E;Extrazimmers."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1272" next="#ID_1273"> Wolle der geneigte Leser dies Genrebild nicht etwa als ein Erzeugniß<lb/>
boshafter Phantasie betrachten; es ist baare Thatsache. Im Sommer würde<lb/>
Ulan auf eine derartige Idylle natürlich verzichten müssen. Also ergiebt sich, daß</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0403] heimische Gast ein. Wie wir aus der begrüßenden Anrede der Kellnerin entnehmen, ist es der Herr „Kanzlist", ein urgemüthlich ausschauender Bieder¬ mann mit mächtigem grauen Knebelbart, in seinem ganzen Wesen einem derben alten Förster gleichend. Er setzt sich uns gegenüber, und nachdem er seine kurze Pfeife angezündet, versuchen wir, ein Gespräch mit ihm anzu¬ knüpfen. Allein er hört schwer, kann auch die norddeutsche Aussprache nicht vertragen, und so waltet alsbald wieder unheimliche Stille. Eine Viertel¬ stunde später erscheint der Herr „Controlor", ein ausgemachter Bureaukrat in mittleren Jahren. Er setzt sich zu unserer Rechten, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Wir reden ihn an, natürlich mit der in der ganzen civilisirten Welt üblichen Einleitungsformel vom Wetter. Er mißt uns mit inquisito¬ rischem Blick vom Scheitel bis zur Zehe, fertigt uns kurz ab und beginnt mit Stentorstimme eine Unterhaltung mit dem Herrn Kanzlist. Abermals eine Viertelstunde später tritt der Herr „Bezirksrichter" ein, der jüngste von den Dreien. Er setzt sich zu unserer Linken; vielleicht ist er von humanerer Gemüthsart, als unser Nachbar zur Rechten; aber wir sind eingeschüchtert und verharren in Schweigen. Zuletzt kommt auch der Herr Wirth, pflanzt sich quer vor den Tisch, passt den Gästen seinen Knäller in's Gesicht und spuckt ohne Unterlaß in kühnem Bogen bis mitten in die Stube. Und nun rollt der Viersprach lustig dahin, von Holzverkauf und Holzdiebstahl, vom demnächstigen Jahrmarkt und dem gestrigen „Concert" (eine herumziehende Tingeltangelgesellschaft), vom Schluß des Weideganges u. s. w. Dazwischen, sobald einer der Gäste das Letzte aus seiner Flasche gegossen, tönt die sonore Frage der Kellnerin: „Trinken Sie noch a Wein?" So geht es bis gegen 9. Da erscheint in der Thür eine hagere Mannesgestalt, in Hemdärmeln, wie weißem Schurz, ein langes Messer in der Rechten. Wir fahren zu¬ sammen; bei dem Halbdunkel des raucherfüllten Zimmers ist uns, als sähen K>ir einen Geist. Aber der Herr Bezirksrichter erhebt sich mit dem fröhlichen Ausruf: „Na, da wollen wir also unser Samstagsgeschäft absolviren", setzt seinen Stuhl mitten in die Stube und läßt sich nach allen Regeln der Kunst rasiren. Desgleichen die Anderen sLcunäum orämein. Diesen gewichtigen Act vollendet, zieht sich Jeder in sichtlich befriedigter Stimmung noch ein Viertel Rothen zu Gemüthe und Punkt 10 Uhr ist die ganze Honoratioren- gesellschast verschwunden. Wir sind wieder allein, den Kopf schwer von dem tückischen Tiroler Landwein und weit mehr noch von dem Qualm des k. k. Knasters, aber wir tragen einen köstlichen Gewinn davon: wir sind eingeweiht die tiefsten Mysterien des „Extrazimmers." Wolle der geneigte Leser dies Genrebild nicht etwa als ein Erzeugniß boshafter Phantasie betrachten; es ist baare Thatsache. Im Sommer würde Ulan auf eine derartige Idylle natürlich verzichten müssen. Also ergiebt sich, daß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/403
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/403>, abgerufen am 27.09.2024.