Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Mission beanstandeten, nicht aber, was sie unter allen Umständen zurückweisen
wollen. Es konnte dies auch nicht wohl geschehen, da die Freiheit des Entschlusses
doch so lange als möglich gewahrt werden muß. Von vielen Seiten war
indeß erwartet worden, es würden beim Beginn der zweiten Lesung oder im
Laufe derselben bei den einzelnen Berathungspunkten mündliche Erklärungen
der Regierungen erfolgen über das, was dieselben unter allen Umständen
Zurückweisen. Auch dies ist nicht geschehen. Statt dessen erklärte der Bun¬
desbevollmächtigte Justizminister Leonhardt gelegentlich bei der Berathung
des Gerichtsverfassungsgesetzes, die Regierungen würden bei der zweiten
Lesung keinen einzigen Punkt als unannehmbar bezeichnen, um die Freiheit
der sachlichen Erörterung in keiner Weise zu beeinträchtigen. Dieses Ver¬
halten ist gewiß zu loben. Aber der Eindruck würde weit günstiger gewesen
sein, wenn die Erklärung nicht gelegentlich, sondern sofort beim Eintritt in
die zweite Lesung erfolgt wäre, mit dem Hinzufügen, daß die Regierungen
vor dem Beginn der dritten Lesung ihre letzten Entschlüsse kundgeben würden.
Vielleicht wäre es auch von guter Wirkung gewesen, im Namen der Bundes¬
regierungen die Bitte auszusprechen, daß der Reichstag seinerseits Bedacht
nehmen möge, schon bet der zweiten Lesung die voraussichtlichen Differenz¬
punkte möglichst zu vermindern. Statt dessen hat der Reichstag bei dem
Gerichtsverfassungsgesetz sämmtliche Punkte festgehalten, welche von den Re¬
gierungen bisher zurückgewiesen worden. Als eine günstige Aussicht für das
Gelingen des ganzen Gesetzes läßt sich dies keinesfalls betrachten, denn es
bleibt eine eigne Sache, wenn, nachdem die Regierungen erklärt haben: ehe
Wir in diese und diese Bestimmungen willigen, ziehen wir das Gesetz zurück,
der Reichstag in dritter Lesung seine sämmtlichen Beschlüsse zweiter Lesung
Widerrufen soll. Es ist serner auch eine eigne Sache, möglichst viel unan¬
nehmbare Beschlüße in der Absicht zu fassen, wenigstens einige davon den
Regierungen aufzudrängen und die Annahme derselben mit dem Opfer der
übrigen gewissermaßen zu erkaufen. -- Es muß als ein schlimmes Mißge¬
schick beklagt werden, daß bet jenem Antrag des Abgeordneten Laster auf
Abänderung der N eichsverfassung behufs Einbeziehung des gesammten bürger¬
ten Rechts in die Reichsgesetzgebung der Antrag, auch die ganze Gestaltung
^r Gerichtsverfassung in die Reichscompetenz einzubeziehen, fallen gelassen
Kurde. Denn zu einem einheitlichen Recht, dessen Besitz, man kann sagen,
^s natürlichste Recht des deutschen Volkes ist, gehört auch die einheitliche
Erfassung der Gerichte. Man kann mit ehrlichster Treue zur Aufrechthal-
tung der Einzelstaaten entschlossen sein nach Maßgabe der Reichsverfassung,
"ut kann doch das Gerede von Justizhoheit der Einzelstaaten recht müßig
"ut mißlich finden. Den Einzelstaaten kann auf dem Boden des einheitlichen
Rechts nur die Verwaltung desselben nach den gesetzlichen Anordnungen des


Grenzboten IV. 1876. 50

Mission beanstandeten, nicht aber, was sie unter allen Umständen zurückweisen
wollen. Es konnte dies auch nicht wohl geschehen, da die Freiheit des Entschlusses
doch so lange als möglich gewahrt werden muß. Von vielen Seiten war
indeß erwartet worden, es würden beim Beginn der zweiten Lesung oder im
Laufe derselben bei den einzelnen Berathungspunkten mündliche Erklärungen
der Regierungen erfolgen über das, was dieselben unter allen Umständen
Zurückweisen. Auch dies ist nicht geschehen. Statt dessen erklärte der Bun¬
desbevollmächtigte Justizminister Leonhardt gelegentlich bei der Berathung
des Gerichtsverfassungsgesetzes, die Regierungen würden bei der zweiten
Lesung keinen einzigen Punkt als unannehmbar bezeichnen, um die Freiheit
der sachlichen Erörterung in keiner Weise zu beeinträchtigen. Dieses Ver¬
halten ist gewiß zu loben. Aber der Eindruck würde weit günstiger gewesen
sein, wenn die Erklärung nicht gelegentlich, sondern sofort beim Eintritt in
die zweite Lesung erfolgt wäre, mit dem Hinzufügen, daß die Regierungen
vor dem Beginn der dritten Lesung ihre letzten Entschlüsse kundgeben würden.
Vielleicht wäre es auch von guter Wirkung gewesen, im Namen der Bundes¬
regierungen die Bitte auszusprechen, daß der Reichstag seinerseits Bedacht
nehmen möge, schon bet der zweiten Lesung die voraussichtlichen Differenz¬
punkte möglichst zu vermindern. Statt dessen hat der Reichstag bei dem
Gerichtsverfassungsgesetz sämmtliche Punkte festgehalten, welche von den Re¬
gierungen bisher zurückgewiesen worden. Als eine günstige Aussicht für das
Gelingen des ganzen Gesetzes läßt sich dies keinesfalls betrachten, denn es
bleibt eine eigne Sache, wenn, nachdem die Regierungen erklärt haben: ehe
Wir in diese und diese Bestimmungen willigen, ziehen wir das Gesetz zurück,
der Reichstag in dritter Lesung seine sämmtlichen Beschlüsse zweiter Lesung
Widerrufen soll. Es ist serner auch eine eigne Sache, möglichst viel unan¬
nehmbare Beschlüße in der Absicht zu fassen, wenigstens einige davon den
Regierungen aufzudrängen und die Annahme derselben mit dem Opfer der
übrigen gewissermaßen zu erkaufen. — Es muß als ein schlimmes Mißge¬
schick beklagt werden, daß bet jenem Antrag des Abgeordneten Laster auf
Abänderung der N eichsverfassung behufs Einbeziehung des gesammten bürger¬
ten Rechts in die Reichsgesetzgebung der Antrag, auch die ganze Gestaltung
^r Gerichtsverfassung in die Reichscompetenz einzubeziehen, fallen gelassen
Kurde. Denn zu einem einheitlichen Recht, dessen Besitz, man kann sagen,
^s natürlichste Recht des deutschen Volkes ist, gehört auch die einheitliche
Erfassung der Gerichte. Man kann mit ehrlichster Treue zur Aufrechthal-
tung der Einzelstaaten entschlossen sein nach Maßgabe der Reichsverfassung,
"ut kann doch das Gerede von Justizhoheit der Einzelstaaten recht müßig
"ut mißlich finden. Den Einzelstaaten kann auf dem Boden des einheitlichen
Rechts nur die Verwaltung desselben nach den gesetzlichen Anordnungen des


Grenzboten IV. 1876. 50
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0397" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137036"/>
          <p xml:id="ID_1257" prev="#ID_1256" next="#ID_1258"> Mission beanstandeten, nicht aber, was sie unter allen Umständen zurückweisen<lb/>
wollen. Es konnte dies auch nicht wohl geschehen, da die Freiheit des Entschlusses<lb/>
doch so lange als möglich gewahrt werden muß.  Von vielen Seiten war<lb/>
indeß erwartet worden, es würden beim Beginn der zweiten Lesung oder im<lb/>
Laufe derselben bei den einzelnen Berathungspunkten mündliche Erklärungen<lb/>
der Regierungen erfolgen über das, was dieselben unter allen Umständen<lb/>
Zurückweisen.  Auch dies ist nicht geschehen.  Statt dessen erklärte der Bun¬<lb/>
desbevollmächtigte Justizminister Leonhardt gelegentlich bei der Berathung<lb/>
des  Gerichtsverfassungsgesetzes, die Regierungen würden bei der zweiten<lb/>
Lesung keinen einzigen Punkt als unannehmbar bezeichnen, um die Freiheit<lb/>
der sachlichen Erörterung in keiner Weise zu beeinträchtigen. Dieses Ver¬<lb/>
halten ist gewiß zu loben.  Aber der Eindruck würde weit günstiger gewesen<lb/>
sein, wenn die Erklärung nicht gelegentlich, sondern sofort beim Eintritt in<lb/>
die zweite Lesung erfolgt wäre, mit dem Hinzufügen, daß die Regierungen<lb/>
vor dem Beginn der dritten Lesung ihre letzten Entschlüsse kundgeben würden.<lb/>
Vielleicht wäre es auch von guter Wirkung gewesen, im Namen der Bundes¬<lb/>
regierungen die Bitte auszusprechen, daß der Reichstag seinerseits Bedacht<lb/>
nehmen möge, schon bet der zweiten Lesung die voraussichtlichen Differenz¬<lb/>
punkte möglichst zu vermindern.  Statt dessen hat der Reichstag bei dem<lb/>
Gerichtsverfassungsgesetz sämmtliche Punkte festgehalten, welche von den Re¬<lb/>
gierungen bisher zurückgewiesen worden. Als eine günstige Aussicht für das<lb/>
Gelingen des ganzen Gesetzes läßt sich dies keinesfalls betrachten, denn es<lb/>
bleibt eine eigne Sache, wenn, nachdem die Regierungen erklärt haben: ehe<lb/>
Wir in diese und diese Bestimmungen willigen, ziehen wir das Gesetz zurück,<lb/>
der Reichstag in dritter Lesung seine sämmtlichen Beschlüsse zweiter Lesung<lb/>
Widerrufen soll. Es ist serner auch eine eigne Sache, möglichst viel unan¬<lb/>
nehmbare Beschlüße in der Absicht zu fassen, wenigstens einige davon den<lb/>
Regierungen aufzudrängen und die Annahme derselben mit dem Opfer der<lb/>
übrigen gewissermaßen zu erkaufen. &#x2014; Es muß als ein schlimmes Mißge¬<lb/>
schick beklagt werden, daß bet jenem Antrag des Abgeordneten Laster auf<lb/>
Abänderung der N eichsverfassung behufs Einbeziehung des gesammten bürger¬<lb/>
ten Rechts in die Reichsgesetzgebung der Antrag, auch die ganze Gestaltung<lb/>
^r Gerichtsverfassung in die Reichscompetenz einzubeziehen, fallen gelassen<lb/>
Kurde. Denn zu einem einheitlichen Recht, dessen Besitz, man kann sagen,<lb/>
^s natürlichste Recht des deutschen Volkes ist, gehört auch die einheitliche<lb/>
Erfassung der Gerichte. Man kann mit ehrlichster Treue zur Aufrechthal-<lb/>
tung der Einzelstaaten entschlossen sein nach Maßgabe der Reichsverfassung,<lb/>
"ut kann doch das Gerede von Justizhoheit der Einzelstaaten recht müßig<lb/>
"ut mißlich finden. Den Einzelstaaten kann auf dem Boden des einheitlichen<lb/>
Rechts nur die Verwaltung desselben nach den gesetzlichen Anordnungen des</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1876. 50</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0397] Mission beanstandeten, nicht aber, was sie unter allen Umständen zurückweisen wollen. Es konnte dies auch nicht wohl geschehen, da die Freiheit des Entschlusses doch so lange als möglich gewahrt werden muß. Von vielen Seiten war indeß erwartet worden, es würden beim Beginn der zweiten Lesung oder im Laufe derselben bei den einzelnen Berathungspunkten mündliche Erklärungen der Regierungen erfolgen über das, was dieselben unter allen Umständen Zurückweisen. Auch dies ist nicht geschehen. Statt dessen erklärte der Bun¬ desbevollmächtigte Justizminister Leonhardt gelegentlich bei der Berathung des Gerichtsverfassungsgesetzes, die Regierungen würden bei der zweiten Lesung keinen einzigen Punkt als unannehmbar bezeichnen, um die Freiheit der sachlichen Erörterung in keiner Weise zu beeinträchtigen. Dieses Ver¬ halten ist gewiß zu loben. Aber der Eindruck würde weit günstiger gewesen sein, wenn die Erklärung nicht gelegentlich, sondern sofort beim Eintritt in die zweite Lesung erfolgt wäre, mit dem Hinzufügen, daß die Regierungen vor dem Beginn der dritten Lesung ihre letzten Entschlüsse kundgeben würden. Vielleicht wäre es auch von guter Wirkung gewesen, im Namen der Bundes¬ regierungen die Bitte auszusprechen, daß der Reichstag seinerseits Bedacht nehmen möge, schon bet der zweiten Lesung die voraussichtlichen Differenz¬ punkte möglichst zu vermindern. Statt dessen hat der Reichstag bei dem Gerichtsverfassungsgesetz sämmtliche Punkte festgehalten, welche von den Re¬ gierungen bisher zurückgewiesen worden. Als eine günstige Aussicht für das Gelingen des ganzen Gesetzes läßt sich dies keinesfalls betrachten, denn es bleibt eine eigne Sache, wenn, nachdem die Regierungen erklärt haben: ehe Wir in diese und diese Bestimmungen willigen, ziehen wir das Gesetz zurück, der Reichstag in dritter Lesung seine sämmtlichen Beschlüsse zweiter Lesung Widerrufen soll. Es ist serner auch eine eigne Sache, möglichst viel unan¬ nehmbare Beschlüße in der Absicht zu fassen, wenigstens einige davon den Regierungen aufzudrängen und die Annahme derselben mit dem Opfer der übrigen gewissermaßen zu erkaufen. — Es muß als ein schlimmes Mißge¬ schick beklagt werden, daß bet jenem Antrag des Abgeordneten Laster auf Abänderung der N eichsverfassung behufs Einbeziehung des gesammten bürger¬ ten Rechts in die Reichsgesetzgebung der Antrag, auch die ganze Gestaltung ^r Gerichtsverfassung in die Reichscompetenz einzubeziehen, fallen gelassen Kurde. Denn zu einem einheitlichen Recht, dessen Besitz, man kann sagen, ^s natürlichste Recht des deutschen Volkes ist, gehört auch die einheitliche Erfassung der Gerichte. Man kann mit ehrlichster Treue zur Aufrechthal- tung der Einzelstaaten entschlossen sein nach Maßgabe der Reichsverfassung, "ut kann doch das Gerede von Justizhoheit der Einzelstaaten recht müßig "ut mißlich finden. Den Einzelstaaten kann auf dem Boden des einheitlichen Rechts nur die Verwaltung desselben nach den gesetzlichen Anordnungen des Grenzboten IV. 1876. 50

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/397
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/397>, abgerufen am 27.09.2024.