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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Zacke des schneebedeckten Tinzenhorns. Ein unheimlich düsterer Ernst liegt
über dieser Einöde. Das ist kein Ort für anmuthige Kurzweil, nur wer
einer bitteren Nothwendigkeit gehorcht, wird hier verweilen.

Und dennoch, den ersten Eindruck einmal überwunden, fühlt man sich
ganz behaglich da droben. Es hat einen eigenthümlichen Reiz, in dieser
Abgeschiedenheit die Allüren einer passabeln Stadt zu finden. Ich meine das
nicht wegen der zahlreichen Hotels, die, wie überall in der Schweiz, in großem
Style angelegt sind und eine gute Verpflegung spenden, wenngleich es den
rüstigen Touristen manchmal scheinen mag, als ob die Küche etwas zu sehr
auf den weniger intensiven Appetit des lungenkranken Kurgastes berechnet
wäre. Nein, was mehr überrascht, ist die Wahrnehmung, wie für die Be¬
friedigung auch der höheren Ansprüche und Bedürfnisse in ausgedehntem
Maße Sorge getragen ist. Bazar, Buchhandlung, sonstige Läden. Bäckereien
und Metzgereien, Schneider- und Schusterateliers, auch ein elegant ausgestatte¬
ter salon pour Is. eoupo clef elisveux mit doppelten Pariser Preisen -- und
das Alles 5000 Fuß über dem Meeresspiegel! Sogar an einer Straßenbe¬
leuchtung mit Gas sowie an einer Straßenbesprengungseinrichtung fehlt es
nicht; doch muß ich als gewissenhafter Berichterstatter gestehen, daß mir nicht
vergönnt war dieselben zu genießen, die erstere nicht, weil grade Mondschein
im Kalender stand, die andere nicht, weil Jupiter Pluvius sein Reservat-
recht in angemessenen Intervallen selbst auszuüben geruhte. -- Im Ganzen
macht Davos ein wenig den Eindruck, als ob das Gründungsfieber selbst
bis in diese höchsten Regionen der belebten Schöpfung hinauf gewüthet hätte;
indeß, das gehört mit dazu. Mit einem Worte: man könnte sich ganz wie zu
Hause fühlen, -- wenn man in diesem Wahne nicht durch die köstliche Lust
in der angenehmsten Weise gestört würde.

Es läßt sich darüber streiten, welchem der verschiedenen leiblichen Hoch¬
genusse der Vorrang gebühre. Ptndar preist das Wasser, Anakreon den
Wein als das Beste. Ich halte es, wenn die Alternative so gestellt wird,
mit dem letzteren; beiden gegenüber aber gebe ich der Luft den Vorzug.
Reinen Wein kann man in unsern Großstädten im Glücksfälle noch bekommen,
reines Wasser zur Noth auch, reine Luft aber nimmermehr. Da ist denn
die Wonne schier unbeschreiblich, wenn man aus der verrufenen Atmosphäre
der deutschen Kaiserstadt plötzlich in dieses unverfälschte Luftmeer versetzt ist.
Man steigt hinaus auf die Schatzalp und setzt sich auf irgend einen Balken
einer Sennhütte. Der Blick auf das tief unten liegende Davos ist nicht ge¬
rade bezaubernd, die aus .dem baumlosen Kurgarten herausschallende Musik
weckt nur deshalb ein behagliches Gefühl, weil man sich freut, soweit von
ihr entfernt zu sein -- aber man athmet, athmet mit voller Lunge, in
langen, tiefen Zügen, und es wird einem so leicht um's Herz, daß man


Zacke des schneebedeckten Tinzenhorns. Ein unheimlich düsterer Ernst liegt
über dieser Einöde. Das ist kein Ort für anmuthige Kurzweil, nur wer
einer bitteren Nothwendigkeit gehorcht, wird hier verweilen.

Und dennoch, den ersten Eindruck einmal überwunden, fühlt man sich
ganz behaglich da droben. Es hat einen eigenthümlichen Reiz, in dieser
Abgeschiedenheit die Allüren einer passabeln Stadt zu finden. Ich meine das
nicht wegen der zahlreichen Hotels, die, wie überall in der Schweiz, in großem
Style angelegt sind und eine gute Verpflegung spenden, wenngleich es den
rüstigen Touristen manchmal scheinen mag, als ob die Küche etwas zu sehr
auf den weniger intensiven Appetit des lungenkranken Kurgastes berechnet
wäre. Nein, was mehr überrascht, ist die Wahrnehmung, wie für die Be¬
friedigung auch der höheren Ansprüche und Bedürfnisse in ausgedehntem
Maße Sorge getragen ist. Bazar, Buchhandlung, sonstige Läden. Bäckereien
und Metzgereien, Schneider- und Schusterateliers, auch ein elegant ausgestatte¬
ter salon pour Is. eoupo clef elisveux mit doppelten Pariser Preisen — und
das Alles 5000 Fuß über dem Meeresspiegel! Sogar an einer Straßenbe¬
leuchtung mit Gas sowie an einer Straßenbesprengungseinrichtung fehlt es
nicht; doch muß ich als gewissenhafter Berichterstatter gestehen, daß mir nicht
vergönnt war dieselben zu genießen, die erstere nicht, weil grade Mondschein
im Kalender stand, die andere nicht, weil Jupiter Pluvius sein Reservat-
recht in angemessenen Intervallen selbst auszuüben geruhte. — Im Ganzen
macht Davos ein wenig den Eindruck, als ob das Gründungsfieber selbst
bis in diese höchsten Regionen der belebten Schöpfung hinauf gewüthet hätte;
indeß, das gehört mit dazu. Mit einem Worte: man könnte sich ganz wie zu
Hause fühlen, — wenn man in diesem Wahne nicht durch die köstliche Lust
in der angenehmsten Weise gestört würde.

Es läßt sich darüber streiten, welchem der verschiedenen leiblichen Hoch¬
genusse der Vorrang gebühre. Ptndar preist das Wasser, Anakreon den
Wein als das Beste. Ich halte es, wenn die Alternative so gestellt wird,
mit dem letzteren; beiden gegenüber aber gebe ich der Luft den Vorzug.
Reinen Wein kann man in unsern Großstädten im Glücksfälle noch bekommen,
reines Wasser zur Noth auch, reine Luft aber nimmermehr. Da ist denn
die Wonne schier unbeschreiblich, wenn man aus der verrufenen Atmosphäre
der deutschen Kaiserstadt plötzlich in dieses unverfälschte Luftmeer versetzt ist.
Man steigt hinaus auf die Schatzalp und setzt sich auf irgend einen Balken
einer Sennhütte. Der Blick auf das tief unten liegende Davos ist nicht ge¬
rade bezaubernd, die aus .dem baumlosen Kurgarten herausschallende Musik
weckt nur deshalb ein behagliches Gefühl, weil man sich freut, soweit von
ihr entfernt zu sein — aber man athmet, athmet mit voller Lunge, in
langen, tiefen Zügen, und es wird einem so leicht um's Herz, daß man


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[0354] Zacke des schneebedeckten Tinzenhorns. Ein unheimlich düsterer Ernst liegt über dieser Einöde. Das ist kein Ort für anmuthige Kurzweil, nur wer einer bitteren Nothwendigkeit gehorcht, wird hier verweilen. Und dennoch, den ersten Eindruck einmal überwunden, fühlt man sich ganz behaglich da droben. Es hat einen eigenthümlichen Reiz, in dieser Abgeschiedenheit die Allüren einer passabeln Stadt zu finden. Ich meine das nicht wegen der zahlreichen Hotels, die, wie überall in der Schweiz, in großem Style angelegt sind und eine gute Verpflegung spenden, wenngleich es den rüstigen Touristen manchmal scheinen mag, als ob die Küche etwas zu sehr auf den weniger intensiven Appetit des lungenkranken Kurgastes berechnet wäre. Nein, was mehr überrascht, ist die Wahrnehmung, wie für die Be¬ friedigung auch der höheren Ansprüche und Bedürfnisse in ausgedehntem Maße Sorge getragen ist. Bazar, Buchhandlung, sonstige Läden. Bäckereien und Metzgereien, Schneider- und Schusterateliers, auch ein elegant ausgestatte¬ ter salon pour Is. eoupo clef elisveux mit doppelten Pariser Preisen — und das Alles 5000 Fuß über dem Meeresspiegel! Sogar an einer Straßenbe¬ leuchtung mit Gas sowie an einer Straßenbesprengungseinrichtung fehlt es nicht; doch muß ich als gewissenhafter Berichterstatter gestehen, daß mir nicht vergönnt war dieselben zu genießen, die erstere nicht, weil grade Mondschein im Kalender stand, die andere nicht, weil Jupiter Pluvius sein Reservat- recht in angemessenen Intervallen selbst auszuüben geruhte. — Im Ganzen macht Davos ein wenig den Eindruck, als ob das Gründungsfieber selbst bis in diese höchsten Regionen der belebten Schöpfung hinauf gewüthet hätte; indeß, das gehört mit dazu. Mit einem Worte: man könnte sich ganz wie zu Hause fühlen, — wenn man in diesem Wahne nicht durch die köstliche Lust in der angenehmsten Weise gestört würde. Es läßt sich darüber streiten, welchem der verschiedenen leiblichen Hoch¬ genusse der Vorrang gebühre. Ptndar preist das Wasser, Anakreon den Wein als das Beste. Ich halte es, wenn die Alternative so gestellt wird, mit dem letzteren; beiden gegenüber aber gebe ich der Luft den Vorzug. Reinen Wein kann man in unsern Großstädten im Glücksfälle noch bekommen, reines Wasser zur Noth auch, reine Luft aber nimmermehr. Da ist denn die Wonne schier unbeschreiblich, wenn man aus der verrufenen Atmosphäre der deutschen Kaiserstadt plötzlich in dieses unverfälschte Luftmeer versetzt ist. Man steigt hinaus auf die Schatzalp und setzt sich auf irgend einen Balken einer Sennhütte. Der Blick auf das tief unten liegende Davos ist nicht ge¬ rade bezaubernd, die aus .dem baumlosen Kurgarten herausschallende Musik weckt nur deshalb ein behagliches Gefühl, weil man sich freut, soweit von ihr entfernt zu sein — aber man athmet, athmet mit voller Lunge, in langen, tiefen Zügen, und es wird einem so leicht um's Herz, daß man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/354>, abgerufen am 27.09.2024.