Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.Unbestreitbar hat die Schweiz weit romantischere Thäler, als den Prätti-
In scharfem Contrast zu der lieblichen Mannichfaltigkeit des Prättigaus Unbestreitbar hat die Schweiz weit romantischere Thäler, als den Prätti-
In scharfem Contrast zu der lieblichen Mannichfaltigkeit des Prättigaus <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0353" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136992"/> <p xml:id="ID_1117"> Unbestreitbar hat die Schweiz weit romantischere Thäler, als den Prätti-<lb/> gau. Dennoch kann ich sagen, daß mich der Naturgenuß niemals so in<lb/> innerster Seele gepackt hat, wie dort und in jenen Tagen. Auf der Höhe<lb/> von Klosters überschaut man den zurückgelegten Weg. Drunten zieht die<lb/> schäumende Landquart durch immer grüne Wiesen; hell schimmern im Sonnen¬<lb/> glanz die Dörfer und Weiler; in beständig wechselnder Schattirung zieht<lb/> sich der Wald die Bergwand hinan, hie und da den Sennhütten Ausblick<lb/> gewährend. Nun überschreiten wir den Kamm der Straße, und vor uns breitet<lb/> sich, den ganzen Hintergrund sperrend, der Silvrettagletscher, der unver¬<lb/> gleichliche Schlußeffect dieses herrlichen Gemäldes. Wie hätte ich in jenem<lb/> Augenblicke gewünscht, Alle, die gleich mir mühselig und beladen waren, um<lb/> mich versammeln zu können. Der Politiker, dem das gehässige Treiben der<lb/> Parteien die Freude am Leben vergällte, der Gelehrte, der in dem Staub<lb/> der Pergamente zu vermodern begann, der Geschäftsmann, auf dem die schwere<lb/> Sorge dieser trüben Zeiten lastet, selbst jene zahlreiche Spezies jüngerer<lb/> Unglücklicher, denen um einer gescheiterten Liebe willen der Rest des Daseins<lb/> als ein ödes Grab erscheint — sie Alle hätten inmitten dieser Jubelfeier<lb/> des alternden Jahres die ursprüngliche Lust am Menschsein ergriffen. Sogar<lb/> der Philosoph des Unbewußten, glaub' ich, hätte einen Augenblick vergessen,<lb/> die Versenkung in das Nichts als das einzig wahre Glück zu preisen. Und<lb/> ">cum nicht — nun. Angesichts dieser lachenden Sterbescene der Natur könnte<lb/> auch für den Menschen der Tod eine Wonne sein! Mir aber kam aus längst-<lb/> vergessenen Tagen eins jener alten Kirchenlieder in den Sinn, die in ihrer<lb/> naiven Trivialität so oft den Nagel auf den Kopf treffen, und laut sagte<lb/> ich mir die Strophe vor:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_41" type="poem"> <l> „O wunderschön ist Gottes Erde<lb/> Und werth, darauf vergnügt zu sein!<lb/> Drum will ich, bis ich Asche werde,<lb/> Mich dieses schönen Lebens freun!"</l> </lg> </quote><lb/> <p xml:id="ID_1118" next="#ID_1119"> In scharfem Contrast zu der lieblichen Mannichfaltigkeit des Prättigaus<lb/> steht das Landschaftsbild, welches sich zwei Stunden später vor dem Wanderer<lb/> öffnet. In strenger Steigung windet sich von Klosters die Straße den Berg<lb/> hinauf nach Davos. Davos hat als Luftkurort in den letzten Jahren eine<lb/> ^eltberühmtheit erlangt. Wunderdinge werden von der Milde seines Win-<lb/> Klimas erzählt. Da ist es verzeihlich, wenn der Neuling ein wahres<lb/> Paradies zu finden erwartet. Statt dessen breitet sich vor seinen enttäuschten<lb/> Blicken ein einförmiges Hochalpenthal, am oberen Ende ein nüchterner See,,<lb/> "n den beiden Längsseiten etwas Tannenwald, langweilige Bergrücken, kahle<lb/> Hörner ohne interessante Formung, in weiter Ferne die majestätisch, barocke</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0353]
Unbestreitbar hat die Schweiz weit romantischere Thäler, als den Prätti-
gau. Dennoch kann ich sagen, daß mich der Naturgenuß niemals so in
innerster Seele gepackt hat, wie dort und in jenen Tagen. Auf der Höhe
von Klosters überschaut man den zurückgelegten Weg. Drunten zieht die
schäumende Landquart durch immer grüne Wiesen; hell schimmern im Sonnen¬
glanz die Dörfer und Weiler; in beständig wechselnder Schattirung zieht
sich der Wald die Bergwand hinan, hie und da den Sennhütten Ausblick
gewährend. Nun überschreiten wir den Kamm der Straße, und vor uns breitet
sich, den ganzen Hintergrund sperrend, der Silvrettagletscher, der unver¬
gleichliche Schlußeffect dieses herrlichen Gemäldes. Wie hätte ich in jenem
Augenblicke gewünscht, Alle, die gleich mir mühselig und beladen waren, um
mich versammeln zu können. Der Politiker, dem das gehässige Treiben der
Parteien die Freude am Leben vergällte, der Gelehrte, der in dem Staub
der Pergamente zu vermodern begann, der Geschäftsmann, auf dem die schwere
Sorge dieser trüben Zeiten lastet, selbst jene zahlreiche Spezies jüngerer
Unglücklicher, denen um einer gescheiterten Liebe willen der Rest des Daseins
als ein ödes Grab erscheint — sie Alle hätten inmitten dieser Jubelfeier
des alternden Jahres die ursprüngliche Lust am Menschsein ergriffen. Sogar
der Philosoph des Unbewußten, glaub' ich, hätte einen Augenblick vergessen,
die Versenkung in das Nichts als das einzig wahre Glück zu preisen. Und
">cum nicht — nun. Angesichts dieser lachenden Sterbescene der Natur könnte
auch für den Menschen der Tod eine Wonne sein! Mir aber kam aus längst-
vergessenen Tagen eins jener alten Kirchenlieder in den Sinn, die in ihrer
naiven Trivialität so oft den Nagel auf den Kopf treffen, und laut sagte
ich mir die Strophe vor:
„O wunderschön ist Gottes Erde
Und werth, darauf vergnügt zu sein!
Drum will ich, bis ich Asche werde,
Mich dieses schönen Lebens freun!"
In scharfem Contrast zu der lieblichen Mannichfaltigkeit des Prättigaus
steht das Landschaftsbild, welches sich zwei Stunden später vor dem Wanderer
öffnet. In strenger Steigung windet sich von Klosters die Straße den Berg
hinauf nach Davos. Davos hat als Luftkurort in den letzten Jahren eine
^eltberühmtheit erlangt. Wunderdinge werden von der Milde seines Win-
Klimas erzählt. Da ist es verzeihlich, wenn der Neuling ein wahres
Paradies zu finden erwartet. Statt dessen breitet sich vor seinen enttäuschten
Blicken ein einförmiges Hochalpenthal, am oberen Ende ein nüchterner See,,
"n den beiden Längsseiten etwas Tannenwald, langweilige Bergrücken, kahle
Hörner ohne interessante Formung, in weiter Ferne die majestätisch, barocke
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