Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Spanischen See, Joe der Schrecken der Meere und Huckleberry Huck Finn
mit der rothen Hand heißt. Sie vertreiben sich hier die Zeit auf die ver¬
gnüglichste Weise, baden, schwimmen, fischen, spielen, während man sie im
Städtchen vermißt, sucht und, als sie sich nicht finden, betrauert. Tom ver¬
schwindet in einer Nacht, um das Haus seiner Tante aufzusuchen und ihr
ein schriftliches Zeichen zu hinterlassen, daß er noch am Leben, und ist dabei
ungesehen Zeuge ihres Schmerzes und Grames um ihn, giebt aber den Ge¬
danken mit dem Zeichen auf, da ihm ein guter Spaß einfällt, der dadurch
unmöglich werden würde. Tags darauf zurückgekehrt auf die Räuberinsel,
versucht er sich mit Joe Harper in der Kunst des Rauchers und erleidet
dabei Unsagbares. In der Nacht überfällt die Knaben ein entsetzliches Ge¬
witter, welches mit den lebhaftesten Farben geschildert wird. Langsamer,
aber wirksamer folgt diesem ein andrer Feind ihres Lebens in der Wildniß
das Heimweh. Zuerst giebt Joe, dann Huck mit der rothen Hand der
Sehnsucht, die ihn nach Hause führen will, nach. Tom als eherner Charakter
wehrt sich stolz und versucht auch die weicheren Freunde zum Bleiben zu be¬
stimmen. Aber sie lassen sich nicht halten, und schon sind sie im Begriff,
die Insel zu räumen, als Tom sie durch Mittheilung seines Planes, der
darin besteht, daß sie sich am nächsten Tage, wo ihnen die Leichenpredigt ge¬
halten werden soll, unvermerkt in die Kirche schleichen und den Sermon mit
anhören, dann aber Prediger und Gemeinde durch ihr plötzliches Erscheinen
überraschen wollen, sofort bewegt, noch eine Nacht zu warten.

Dieser ruchlose Plan gelingt vollständig. Der Geistliche predigt über
den Text: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Er "entwarf im Ver
lauf seiner Rede ein solches Bild von dem anmuthigen, gewinnenden Wesen
und den vielverheißenden Fähigkeiten der verschollenen Knaben, daß alle Welt
in der Kirche in dem Glauben, in diesen Bildern die Verstorbenen wiederzu¬
erkennen, Gewissensbisse empfand, indem man sich erinnerte, daß man sich
vorher hartnäckig vor ihnen verblendet und ebenso hartnäckig in den armen
Knaben nur Fehler und Mängel gesehen hatte. Der Geistliche erzählte viele
rührende Züge aus dem Leben der Hingeschiedenen, welche ihr holdes, edel-
Müthiges Wesen zeigten, und die Leute konnten jetzt leicht sehen, wie edel
und schön diese Episoden waren, und erinnerten sich mit Bekümmerniß, daß
ste ihnen zu der Zeit, wo sie passirt, als wüster Unfug erschienen waren,
der den Ochsenziemer verdiente. Die Gemeinde wurde im Fortgang der
Pathetischen Erzählung immer gerührter, bis zuletzt die ganze Gesellschaft zu¬
sammenbrach und sich den weinenden Leidtragenden in einem Chorus schluchzen¬
der Seelen voll Betrübniß anschloß und selbst der Prediger, seinen Gefühlen
freien Lauf lassend, auf offner Kanzel weinte.


Spanischen See, Joe der Schrecken der Meere und Huckleberry Huck Finn
mit der rothen Hand heißt. Sie vertreiben sich hier die Zeit auf die ver¬
gnüglichste Weise, baden, schwimmen, fischen, spielen, während man sie im
Städtchen vermißt, sucht und, als sie sich nicht finden, betrauert. Tom ver¬
schwindet in einer Nacht, um das Haus seiner Tante aufzusuchen und ihr
ein schriftliches Zeichen zu hinterlassen, daß er noch am Leben, und ist dabei
ungesehen Zeuge ihres Schmerzes und Grames um ihn, giebt aber den Ge¬
danken mit dem Zeichen auf, da ihm ein guter Spaß einfällt, der dadurch
unmöglich werden würde. Tags darauf zurückgekehrt auf die Räuberinsel,
versucht er sich mit Joe Harper in der Kunst des Rauchers und erleidet
dabei Unsagbares. In der Nacht überfällt die Knaben ein entsetzliches Ge¬
witter, welches mit den lebhaftesten Farben geschildert wird. Langsamer,
aber wirksamer folgt diesem ein andrer Feind ihres Lebens in der Wildniß
das Heimweh. Zuerst giebt Joe, dann Huck mit der rothen Hand der
Sehnsucht, die ihn nach Hause führen will, nach. Tom als eherner Charakter
wehrt sich stolz und versucht auch die weicheren Freunde zum Bleiben zu be¬
stimmen. Aber sie lassen sich nicht halten, und schon sind sie im Begriff,
die Insel zu räumen, als Tom sie durch Mittheilung seines Planes, der
darin besteht, daß sie sich am nächsten Tage, wo ihnen die Leichenpredigt ge¬
halten werden soll, unvermerkt in die Kirche schleichen und den Sermon mit
anhören, dann aber Prediger und Gemeinde durch ihr plötzliches Erscheinen
überraschen wollen, sofort bewegt, noch eine Nacht zu warten.

Dieser ruchlose Plan gelingt vollständig. Der Geistliche predigt über
den Text: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Er „entwarf im Ver
lauf seiner Rede ein solches Bild von dem anmuthigen, gewinnenden Wesen
und den vielverheißenden Fähigkeiten der verschollenen Knaben, daß alle Welt
in der Kirche in dem Glauben, in diesen Bildern die Verstorbenen wiederzu¬
erkennen, Gewissensbisse empfand, indem man sich erinnerte, daß man sich
vorher hartnäckig vor ihnen verblendet und ebenso hartnäckig in den armen
Knaben nur Fehler und Mängel gesehen hatte. Der Geistliche erzählte viele
rührende Züge aus dem Leben der Hingeschiedenen, welche ihr holdes, edel-
Müthiges Wesen zeigten, und die Leute konnten jetzt leicht sehen, wie edel
und schön diese Episoden waren, und erinnerten sich mit Bekümmerniß, daß
ste ihnen zu der Zeit, wo sie passirt, als wüster Unfug erschienen waren,
der den Ochsenziemer verdiente. Die Gemeinde wurde im Fortgang der
Pathetischen Erzählung immer gerührter, bis zuletzt die ganze Gesellschaft zu¬
sammenbrach und sich den weinenden Leidtragenden in einem Chorus schluchzen¬
der Seelen voll Betrübniß anschloß und selbst der Prediger, seinen Gefühlen
freien Lauf lassend, auf offner Kanzel weinte.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0225" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136864"/>
          <p xml:id="ID_623" prev="#ID_622"> Spanischen See, Joe der Schrecken der Meere und Huckleberry Huck Finn<lb/>
mit der rothen Hand heißt. Sie vertreiben sich hier die Zeit auf die ver¬<lb/>
gnüglichste Weise, baden, schwimmen, fischen, spielen, während man sie im<lb/>
Städtchen vermißt, sucht und, als sie sich nicht finden, betrauert. Tom ver¬<lb/>
schwindet in einer Nacht, um das Haus seiner Tante aufzusuchen und ihr<lb/>
ein schriftliches Zeichen zu hinterlassen, daß er noch am Leben, und ist dabei<lb/>
ungesehen Zeuge ihres Schmerzes und Grames um ihn, giebt aber den Ge¬<lb/>
danken mit dem Zeichen auf, da ihm ein guter Spaß einfällt, der dadurch<lb/>
unmöglich werden würde. Tags darauf zurückgekehrt auf die Räuberinsel,<lb/>
versucht er sich mit Joe Harper in der Kunst des Rauchers und erleidet<lb/>
dabei Unsagbares. In der Nacht überfällt die Knaben ein entsetzliches Ge¬<lb/>
witter, welches mit den lebhaftesten Farben geschildert wird. Langsamer,<lb/>
aber wirksamer folgt diesem ein andrer Feind ihres Lebens in der Wildniß<lb/>
das Heimweh. Zuerst giebt Joe, dann Huck mit der rothen Hand der<lb/>
Sehnsucht, die ihn nach Hause führen will, nach. Tom als eherner Charakter<lb/>
wehrt sich stolz und versucht auch die weicheren Freunde zum Bleiben zu be¬<lb/>
stimmen. Aber sie lassen sich nicht halten, und schon sind sie im Begriff,<lb/>
die Insel zu räumen, als Tom sie durch Mittheilung seines Planes, der<lb/>
darin besteht, daß sie sich am nächsten Tage, wo ihnen die Leichenpredigt ge¬<lb/>
halten werden soll, unvermerkt in die Kirche schleichen und den Sermon mit<lb/>
anhören, dann aber Prediger und Gemeinde durch ihr plötzliches Erscheinen<lb/>
überraschen wollen, sofort bewegt, noch eine Nacht zu warten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_624"> Dieser ruchlose Plan gelingt vollständig. Der Geistliche predigt über<lb/>
den Text: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Er &#x201E;entwarf im Ver<lb/>
lauf seiner Rede ein solches Bild von dem anmuthigen, gewinnenden Wesen<lb/>
und den vielverheißenden Fähigkeiten der verschollenen Knaben, daß alle Welt<lb/>
in der Kirche in dem Glauben, in diesen Bildern die Verstorbenen wiederzu¬<lb/>
erkennen, Gewissensbisse empfand, indem man sich erinnerte, daß man sich<lb/>
vorher hartnäckig vor ihnen verblendet und ebenso hartnäckig in den armen<lb/>
Knaben nur Fehler und Mängel gesehen hatte. Der Geistliche erzählte viele<lb/>
rührende Züge aus dem Leben der Hingeschiedenen, welche ihr holdes, edel-<lb/>
Müthiges Wesen zeigten, und die Leute konnten jetzt leicht sehen, wie edel<lb/>
und schön diese Episoden waren, und erinnerten sich mit Bekümmerniß, daß<lb/>
ste ihnen zu der Zeit, wo sie passirt, als wüster Unfug erschienen waren,<lb/>
der den Ochsenziemer verdiente. Die Gemeinde wurde im Fortgang der<lb/>
Pathetischen Erzählung immer gerührter, bis zuletzt die ganze Gesellschaft zu¬<lb/>
sammenbrach und sich den weinenden Leidtragenden in einem Chorus schluchzen¬<lb/>
der Seelen voll Betrübniß anschloß und selbst der Prediger, seinen Gefühlen<lb/>
freien Lauf lassend, auf offner Kanzel weinte.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0225] Spanischen See, Joe der Schrecken der Meere und Huckleberry Huck Finn mit der rothen Hand heißt. Sie vertreiben sich hier die Zeit auf die ver¬ gnüglichste Weise, baden, schwimmen, fischen, spielen, während man sie im Städtchen vermißt, sucht und, als sie sich nicht finden, betrauert. Tom ver¬ schwindet in einer Nacht, um das Haus seiner Tante aufzusuchen und ihr ein schriftliches Zeichen zu hinterlassen, daß er noch am Leben, und ist dabei ungesehen Zeuge ihres Schmerzes und Grames um ihn, giebt aber den Ge¬ danken mit dem Zeichen auf, da ihm ein guter Spaß einfällt, der dadurch unmöglich werden würde. Tags darauf zurückgekehrt auf die Räuberinsel, versucht er sich mit Joe Harper in der Kunst des Rauchers und erleidet dabei Unsagbares. In der Nacht überfällt die Knaben ein entsetzliches Ge¬ witter, welches mit den lebhaftesten Farben geschildert wird. Langsamer, aber wirksamer folgt diesem ein andrer Feind ihres Lebens in der Wildniß das Heimweh. Zuerst giebt Joe, dann Huck mit der rothen Hand der Sehnsucht, die ihn nach Hause führen will, nach. Tom als eherner Charakter wehrt sich stolz und versucht auch die weicheren Freunde zum Bleiben zu be¬ stimmen. Aber sie lassen sich nicht halten, und schon sind sie im Begriff, die Insel zu räumen, als Tom sie durch Mittheilung seines Planes, der darin besteht, daß sie sich am nächsten Tage, wo ihnen die Leichenpredigt ge¬ halten werden soll, unvermerkt in die Kirche schleichen und den Sermon mit anhören, dann aber Prediger und Gemeinde durch ihr plötzliches Erscheinen überraschen wollen, sofort bewegt, noch eine Nacht zu warten. Dieser ruchlose Plan gelingt vollständig. Der Geistliche predigt über den Text: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Er „entwarf im Ver lauf seiner Rede ein solches Bild von dem anmuthigen, gewinnenden Wesen und den vielverheißenden Fähigkeiten der verschollenen Knaben, daß alle Welt in der Kirche in dem Glauben, in diesen Bildern die Verstorbenen wiederzu¬ erkennen, Gewissensbisse empfand, indem man sich erinnerte, daß man sich vorher hartnäckig vor ihnen verblendet und ebenso hartnäckig in den armen Knaben nur Fehler und Mängel gesehen hatte. Der Geistliche erzählte viele rührende Züge aus dem Leben der Hingeschiedenen, welche ihr holdes, edel- Müthiges Wesen zeigten, und die Leute konnten jetzt leicht sehen, wie edel und schön diese Episoden waren, und erinnerten sich mit Bekümmerniß, daß ste ihnen zu der Zeit, wo sie passirt, als wüster Unfug erschienen waren, der den Ochsenziemer verdiente. Die Gemeinde wurde im Fortgang der Pathetischen Erzählung immer gerührter, bis zuletzt die ganze Gesellschaft zu¬ sammenbrach und sich den weinenden Leidtragenden in einem Chorus schluchzen¬ der Seelen voll Betrübniß anschloß und selbst der Prediger, seinen Gefühlen freien Lauf lassend, auf offner Kanzel weinte.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/225
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/225>, abgerufen am 27.09.2024.