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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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der Naturphilosophie. Vor Newton galten die Körper als kraftlos; er
zeigte aber, daß sie selbst Kräfte und zwar der Anziehung seien. Kant aber
bewies, daß alle Materie, auch das Atom, als anziehende und abstoßende
Kraft zu begreifen sei. Freilich verwarf er die Atome, die er in der me¬
chanischen Auffassung von Cartesius bekämpfte; aber er sagte: die Materie
ist ins Unendliche theilbar, aber in Theile die immer noch Materie sind; und
diese unendlich kleinen Theile können wir wohl Atome nennen, insofern wir
mit Lazarus S. 351 sagen: "Draußen im Reiche des Concreten bedeutet
Einheit niemals Einfachheit, selbst vom Atome wird nicht behauptet, daß es
wirklich einfach ist, sondern nur daß es durch seine individuelle Gestaltung
wie eine Einheit wirkt."

Ich darf daher sagen, Kant betrachtet die Seele, wie die Materie, bis
in ihr kleinstes Atom als Kraft, als Dynamis; und in dieser dynamischen
Auffassung liegt Kant's reformatorische That, durch die er um so mehr der
ganzen seitherigen Weltanschauung entgegentrat, als er nicht nur die Vor¬
stellung von einer kraftlosen Materie, sondern auch, muß man sagen, die
von einer kraftlosen Seele verwarf. Denn freilich hatte man die Seele als
die Kraft angesehen im Gegensatz zur Materie: aber möchte man nun sagen,
die Seele sei als Intelligenz aus der himmlischen Höhe in das Gefängniß
des irdischen Lebens gekommen, oder sie sei mit angeborener Idee ins Da¬
sein getreten, oder sie sei eine leere Tafel die von der Außenwelt beschrieben
werde: in all diesen Fällen galt die Seele eigentlich als kraftlos, insofern
sie ihr geistiges Vermögen nicht selbstthätig vermehren konnte, sondern ver¬
harren mußte in der Intelligenz, mit der sie vom Himmel kam, oder in der
Idee, die ihr angeboren war, oder insofern sie passiv aufnehmen mußte, was
die Außenwelt zufällig aufdrückte. Diesen Anschauungen gegenüber machte
Kant die Seele zu einem Vermögen der Ideen, zu einer die Wahrheit er-
obernden, und nach ihr aus inneren Principien mit sittlicher Freiheit sich zu
bestimmen vermögenden Kraft.

Von der Materie aber sagt Kant: Metaphysisch ließe sich von ihr
nur sagen, daß sie als anziehende und abstoßende Kraft zu begreifen sei; aber
nur auf dem Wege der Induction oder Erfahrung könne die Form oder das
Gesetz der Anziehung festgestellt werden. Diese Induction lehrte nun diese Form
als das Gesetz der Gravitation kennen und zeigte, daß das Gravitirende an
das Trägheitsgesetz gebunden ist, von welchem Kant sagte, ohne dasselbe wäre keine
Naturwissenschaft, sondern nur Hylozoismus möglich, und seine Existenz er¬
fordere für das was gravitirt und für das, was sich selbst bestimmt, zwei
verschiedene obzwar mit einander verbundene Substanzen.

Hiernach ist die sog. Materie die Substanz der Gravitation, der Geist
die Substanz des kategorischen Imperativs oder der sittlichen Freiheit. Nun


der Naturphilosophie. Vor Newton galten die Körper als kraftlos; er
zeigte aber, daß sie selbst Kräfte und zwar der Anziehung seien. Kant aber
bewies, daß alle Materie, auch das Atom, als anziehende und abstoßende
Kraft zu begreifen sei. Freilich verwarf er die Atome, die er in der me¬
chanischen Auffassung von Cartesius bekämpfte; aber er sagte: die Materie
ist ins Unendliche theilbar, aber in Theile die immer noch Materie sind; und
diese unendlich kleinen Theile können wir wohl Atome nennen, insofern wir
mit Lazarus S. 351 sagen: „Draußen im Reiche des Concreten bedeutet
Einheit niemals Einfachheit, selbst vom Atome wird nicht behauptet, daß es
wirklich einfach ist, sondern nur daß es durch seine individuelle Gestaltung
wie eine Einheit wirkt."

Ich darf daher sagen, Kant betrachtet die Seele, wie die Materie, bis
in ihr kleinstes Atom als Kraft, als Dynamis; und in dieser dynamischen
Auffassung liegt Kant's reformatorische That, durch die er um so mehr der
ganzen seitherigen Weltanschauung entgegentrat, als er nicht nur die Vor¬
stellung von einer kraftlosen Materie, sondern auch, muß man sagen, die
von einer kraftlosen Seele verwarf. Denn freilich hatte man die Seele als
die Kraft angesehen im Gegensatz zur Materie: aber möchte man nun sagen,
die Seele sei als Intelligenz aus der himmlischen Höhe in das Gefängniß
des irdischen Lebens gekommen, oder sie sei mit angeborener Idee ins Da¬
sein getreten, oder sie sei eine leere Tafel die von der Außenwelt beschrieben
werde: in all diesen Fällen galt die Seele eigentlich als kraftlos, insofern
sie ihr geistiges Vermögen nicht selbstthätig vermehren konnte, sondern ver¬
harren mußte in der Intelligenz, mit der sie vom Himmel kam, oder in der
Idee, die ihr angeboren war, oder insofern sie passiv aufnehmen mußte, was
die Außenwelt zufällig aufdrückte. Diesen Anschauungen gegenüber machte
Kant die Seele zu einem Vermögen der Ideen, zu einer die Wahrheit er-
obernden, und nach ihr aus inneren Principien mit sittlicher Freiheit sich zu
bestimmen vermögenden Kraft.

Von der Materie aber sagt Kant: Metaphysisch ließe sich von ihr
nur sagen, daß sie als anziehende und abstoßende Kraft zu begreifen sei; aber
nur auf dem Wege der Induction oder Erfahrung könne die Form oder das
Gesetz der Anziehung festgestellt werden. Diese Induction lehrte nun diese Form
als das Gesetz der Gravitation kennen und zeigte, daß das Gravitirende an
das Trägheitsgesetz gebunden ist, von welchem Kant sagte, ohne dasselbe wäre keine
Naturwissenschaft, sondern nur Hylozoismus möglich, und seine Existenz er¬
fordere für das was gravitirt und für das, was sich selbst bestimmt, zwei
verschiedene obzwar mit einander verbundene Substanzen.

Hiernach ist die sog. Materie die Substanz der Gravitation, der Geist
die Substanz des kategorischen Imperativs oder der sittlichen Freiheit. Nun


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[0190] der Naturphilosophie. Vor Newton galten die Körper als kraftlos; er zeigte aber, daß sie selbst Kräfte und zwar der Anziehung seien. Kant aber bewies, daß alle Materie, auch das Atom, als anziehende und abstoßende Kraft zu begreifen sei. Freilich verwarf er die Atome, die er in der me¬ chanischen Auffassung von Cartesius bekämpfte; aber er sagte: die Materie ist ins Unendliche theilbar, aber in Theile die immer noch Materie sind; und diese unendlich kleinen Theile können wir wohl Atome nennen, insofern wir mit Lazarus S. 351 sagen: „Draußen im Reiche des Concreten bedeutet Einheit niemals Einfachheit, selbst vom Atome wird nicht behauptet, daß es wirklich einfach ist, sondern nur daß es durch seine individuelle Gestaltung wie eine Einheit wirkt." Ich darf daher sagen, Kant betrachtet die Seele, wie die Materie, bis in ihr kleinstes Atom als Kraft, als Dynamis; und in dieser dynamischen Auffassung liegt Kant's reformatorische That, durch die er um so mehr der ganzen seitherigen Weltanschauung entgegentrat, als er nicht nur die Vor¬ stellung von einer kraftlosen Materie, sondern auch, muß man sagen, die von einer kraftlosen Seele verwarf. Denn freilich hatte man die Seele als die Kraft angesehen im Gegensatz zur Materie: aber möchte man nun sagen, die Seele sei als Intelligenz aus der himmlischen Höhe in das Gefängniß des irdischen Lebens gekommen, oder sie sei mit angeborener Idee ins Da¬ sein getreten, oder sie sei eine leere Tafel die von der Außenwelt beschrieben werde: in all diesen Fällen galt die Seele eigentlich als kraftlos, insofern sie ihr geistiges Vermögen nicht selbstthätig vermehren konnte, sondern ver¬ harren mußte in der Intelligenz, mit der sie vom Himmel kam, oder in der Idee, die ihr angeboren war, oder insofern sie passiv aufnehmen mußte, was die Außenwelt zufällig aufdrückte. Diesen Anschauungen gegenüber machte Kant die Seele zu einem Vermögen der Ideen, zu einer die Wahrheit er- obernden, und nach ihr aus inneren Principien mit sittlicher Freiheit sich zu bestimmen vermögenden Kraft. Von der Materie aber sagt Kant: Metaphysisch ließe sich von ihr nur sagen, daß sie als anziehende und abstoßende Kraft zu begreifen sei; aber nur auf dem Wege der Induction oder Erfahrung könne die Form oder das Gesetz der Anziehung festgestellt werden. Diese Induction lehrte nun diese Form als das Gesetz der Gravitation kennen und zeigte, daß das Gravitirende an das Trägheitsgesetz gebunden ist, von welchem Kant sagte, ohne dasselbe wäre keine Naturwissenschaft, sondern nur Hylozoismus möglich, und seine Existenz er¬ fordere für das was gravitirt und für das, was sich selbst bestimmt, zwei verschiedene obzwar mit einander verbundene Substanzen. Hiernach ist die sog. Materie die Substanz der Gravitation, der Geist die Substanz des kategorischen Imperativs oder der sittlichen Freiheit. Nun

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/190>, abgerufen am 27.09.2024.