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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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sie waren auch die Ursache, daß manche seiner Maßregeln das Gegentheil
von dem bewirkten, was sie bezweckten.

Die Hoffnung und das Vorwärtsstreben, welche sich in der ersten Zeit
des Auftretens Thorbecke's kundgaben, sind gewichen der Resignation im
Volke und der Unfähigkeit zu fast jeder Maßregel, die nicht durch die große
Noth der Verhältnisse abgedrungen wird. Man berathschlagt Jahr aus
Jahr ein in Kammern und Commissionen und Versammlungen über die
Lebensfragen des Landes, aber Parteileidenschaft, Selbstsucht und Rück¬
sichten aller Art verhindern jedes Handeln. Jeder klagt den Andern an, daß
er die Schuld an diesem Zustande trage, aber Keiner will etwas von seinen
Ansprüchen zum Wohl des Staates aufgeben. Und nun gar die kirchlichen
Parteien, die den Staat ihren Zwecken dienstbar machen wollen, regen sich
mit wachsendem Erfolg. Die alte Oligarchie der Republik ist unter veränderter
Form wieder erstanden und das niedere Volk erwartet nur von Oranien
Hülfe. Dem Calvinismus, den reformirten Pastoren, sind die Jesuiten zur
Seite getreten; beide suchen die Herrschaft zu erlangen. Dieser Zustand hat
sehr viel Aehnlichkeit mit demjenigen, den Thorbecke als abschreckendes Bild
von der alten Republik schilderte. Man spricht wieder von niederländischen
Principien und Bedachtsamkeit, von niederländischer Freiheit, weil man lieber
mit schlechten Gewohnheiten zu Grunde gehen will, als sich andern, bessern
Gewohnheiten zu fügen. Man sonnt sich noch immer so gerne an dem Ruhm
der Vorfahren und wähnt sich selbst groß in diesem ererbten Glänze. Noch
gelten die Worte Thorbecke's: "Die niederländischen Propheten können sich,
glaube ich, nicht über Mangel an Verehrung in ihrem Vaterlande beklagen.
Wir lieben das Lob und hassen die Kritik." "Ein unkundiger, fremder
Schriftsteller, der uns und unsere Zustände rühmt, ist eine Autorität, die uns
in unserer eigenen Werthschätzung erhebt. Aber Thiers, der mit einigen
Prozenten seines Talentes unsere berühmten Schriftsteller reich machen könnte,
der aber das Unglück hat, sich über Schimmelpenninck (Ratspensionär der
batavischen Republik) nur kurz zu äußern und nicht zu wissen, daß unser
Landsmann dem ersten Consul Gesetze vorschrieb, wie sollte er mehr als ein
armseliger Vielschreiber sein können?" Die nationale Eitelkeit und Selbstüber¬
hebung macht sich ungebührlich breit; man ist beleidigt und wird grob, wenn
Jemand es wagt, alte Traditionen, deren sich doch schon so manche als
nicht stichhaltig bewiesen haben, einmal kritisch zu beleuchten.

Wie viele große Fragen des Volkslebens harren der Lösung? Das
Colonialwesen, die Landesvertheidigung, das Steuerwesen, die Strafgesetz¬
gebung stehen seit langen Jahren auf der Tagesordnung und für die Ver¬
besserung des Schulwesens agitirt man schon geraume Zeit; aber das Inter¬
esse der herrschenden Klassen, der Oligarchie, und der Parteien widerstrebt


sie waren auch die Ursache, daß manche seiner Maßregeln das Gegentheil
von dem bewirkten, was sie bezweckten.

Die Hoffnung und das Vorwärtsstreben, welche sich in der ersten Zeit
des Auftretens Thorbecke's kundgaben, sind gewichen der Resignation im
Volke und der Unfähigkeit zu fast jeder Maßregel, die nicht durch die große
Noth der Verhältnisse abgedrungen wird. Man berathschlagt Jahr aus
Jahr ein in Kammern und Commissionen und Versammlungen über die
Lebensfragen des Landes, aber Parteileidenschaft, Selbstsucht und Rück¬
sichten aller Art verhindern jedes Handeln. Jeder klagt den Andern an, daß
er die Schuld an diesem Zustande trage, aber Keiner will etwas von seinen
Ansprüchen zum Wohl des Staates aufgeben. Und nun gar die kirchlichen
Parteien, die den Staat ihren Zwecken dienstbar machen wollen, regen sich
mit wachsendem Erfolg. Die alte Oligarchie der Republik ist unter veränderter
Form wieder erstanden und das niedere Volk erwartet nur von Oranien
Hülfe. Dem Calvinismus, den reformirten Pastoren, sind die Jesuiten zur
Seite getreten; beide suchen die Herrschaft zu erlangen. Dieser Zustand hat
sehr viel Aehnlichkeit mit demjenigen, den Thorbecke als abschreckendes Bild
von der alten Republik schilderte. Man spricht wieder von niederländischen
Principien und Bedachtsamkeit, von niederländischer Freiheit, weil man lieber
mit schlechten Gewohnheiten zu Grunde gehen will, als sich andern, bessern
Gewohnheiten zu fügen. Man sonnt sich noch immer so gerne an dem Ruhm
der Vorfahren und wähnt sich selbst groß in diesem ererbten Glänze. Noch
gelten die Worte Thorbecke's: „Die niederländischen Propheten können sich,
glaube ich, nicht über Mangel an Verehrung in ihrem Vaterlande beklagen.
Wir lieben das Lob und hassen die Kritik." „Ein unkundiger, fremder
Schriftsteller, der uns und unsere Zustände rühmt, ist eine Autorität, die uns
in unserer eigenen Werthschätzung erhebt. Aber Thiers, der mit einigen
Prozenten seines Talentes unsere berühmten Schriftsteller reich machen könnte,
der aber das Unglück hat, sich über Schimmelpenninck (Ratspensionär der
batavischen Republik) nur kurz zu äußern und nicht zu wissen, daß unser
Landsmann dem ersten Consul Gesetze vorschrieb, wie sollte er mehr als ein
armseliger Vielschreiber sein können?" Die nationale Eitelkeit und Selbstüber¬
hebung macht sich ungebührlich breit; man ist beleidigt und wird grob, wenn
Jemand es wagt, alte Traditionen, deren sich doch schon so manche als
nicht stichhaltig bewiesen haben, einmal kritisch zu beleuchten.

Wie viele große Fragen des Volkslebens harren der Lösung? Das
Colonialwesen, die Landesvertheidigung, das Steuerwesen, die Strafgesetz¬
gebung stehen seit langen Jahren auf der Tagesordnung und für die Ver¬
besserung des Schulwesens agitirt man schon geraume Zeit; aber das Inter¬
esse der herrschenden Klassen, der Oligarchie, und der Parteien widerstrebt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/177>, abgerufen am 27.09.2024.