Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und Preußen eroberte das Land in wenigen Tagen und fast ohne Wider¬
stand für den Prinzen von Oranien. Eine fremde Macht nöthigte ihren
Willen denjenigen auf, die noch kurz vorher sich hoch über ihre Feinde erhaben
dünkten, jetzt aber nicht den Muth hatten, für ihre Ueberzeugung ein Opfer
zu bringen.

Acht Jahre später fand dasselbe schmähliche Schauspiel statt, nur mit
dem Unterschiede, daß die Franzosen zur Vertreibung des Erbstatthalters
in's Land gerufen wurden, und daß die Folgen dieser gänzlich un¬
blutigen Invasion zur völligen Vernichtung der Republik führten. Die
batavische Republik zeigte sich lebensunfähig. Das Königreich Holland
starb trotz der wohlmeinenden Anstrengungen Ludwig Napoleons an Kraft¬
losigkeit. Die Einverleibung in Frankreich erfolgte. Thorbecke äußert sich
über diese Periode: "Man wendet seinen Blick gerne von einem solchen Schau¬
spiel ab, und doch ist es weniger heilsam, unsere Größe zu bewundern, als
unsere Schwäche zu betrachten. Gutgesinnte, ihr Land aufrichtig liebende
Männer bringen aus Angst Eid, Pflicht, Ueberzeugung und Ehre zum
Schweigen, um einen König zu verlangen, den sie nicht wollen. Eine Er¬
scheinung, die nicht die erste und einzige in unserer politischen Geschichte ist.
.... Diejenigen, welche damals lebten, hielten unsere Unterwerfung unter einen
fremden König und ein fremdes Gesetz für die alleinige oder hauptsächliche
Folge von Napoleons Uebermuth und Gewalt. Wir stehen den Ereignissen
ferne genug, um sie im Zusammenhang mit der ganzen Reihe Begebenheiten
seit 1793 zu betrachten. Wie schmerzlich auch der Zweifel sei, wagt Jemand
von uns zu behaupten, daß wir ein besseres Loos verdienten? Würde es
uns geholfen haben, wenn wir selbständig geblieben wären? Die Verwir¬
rung bei uns würde noch unendlich größer und ohne Ende gewesen sein.
Unser Unglück kam nicht in Begleitung oder mit der Herrschaft der Franzosen,
sondern es kam daher, daß wir unsere Reform ohne sie nicht ausführen
konnten." Es war eine traurige Zeit, wo man einen Fremdling sich zum
König erbat, da man sich selbst nicht mehr regieren konnte, und wo man
diesen König mit Jubel empfing. Noch trauriger war es, daß man diesen König
in seinen Plänen für die Unabhängigkeit des Landes nicht zu unterstützen wagte.

Dennoch war die Einverleibung Hollands in Frankreich nicht ohne
Segen für die Zukunft, denn durch sie allein war eine gänzliche Umgestal¬
tung der durch und durch verrotteten Zustände möglich; ohne sie würde
die alte Wirthschaft wohl niemals rein ausgefegt worden sein; finden sich
die Spuren derselben doch auch jetzt noch! Aeußerlich in der Form ist Alles
zwar ganz anders geworden, aber in. den selten und Gewohnheiten des
Volkes ist noch ein beträchtlicher Nest lebendig geblieben. Auch in andern
Ländern hatte die französische Herrschaft Vieles, was faul war, beseitigt, und auch


und Preußen eroberte das Land in wenigen Tagen und fast ohne Wider¬
stand für den Prinzen von Oranien. Eine fremde Macht nöthigte ihren
Willen denjenigen auf, die noch kurz vorher sich hoch über ihre Feinde erhaben
dünkten, jetzt aber nicht den Muth hatten, für ihre Ueberzeugung ein Opfer
zu bringen.

Acht Jahre später fand dasselbe schmähliche Schauspiel statt, nur mit
dem Unterschiede, daß die Franzosen zur Vertreibung des Erbstatthalters
in's Land gerufen wurden, und daß die Folgen dieser gänzlich un¬
blutigen Invasion zur völligen Vernichtung der Republik führten. Die
batavische Republik zeigte sich lebensunfähig. Das Königreich Holland
starb trotz der wohlmeinenden Anstrengungen Ludwig Napoleons an Kraft¬
losigkeit. Die Einverleibung in Frankreich erfolgte. Thorbecke äußert sich
über diese Periode: „Man wendet seinen Blick gerne von einem solchen Schau¬
spiel ab, und doch ist es weniger heilsam, unsere Größe zu bewundern, als
unsere Schwäche zu betrachten. Gutgesinnte, ihr Land aufrichtig liebende
Männer bringen aus Angst Eid, Pflicht, Ueberzeugung und Ehre zum
Schweigen, um einen König zu verlangen, den sie nicht wollen. Eine Er¬
scheinung, die nicht die erste und einzige in unserer politischen Geschichte ist.
.... Diejenigen, welche damals lebten, hielten unsere Unterwerfung unter einen
fremden König und ein fremdes Gesetz für die alleinige oder hauptsächliche
Folge von Napoleons Uebermuth und Gewalt. Wir stehen den Ereignissen
ferne genug, um sie im Zusammenhang mit der ganzen Reihe Begebenheiten
seit 1793 zu betrachten. Wie schmerzlich auch der Zweifel sei, wagt Jemand
von uns zu behaupten, daß wir ein besseres Loos verdienten? Würde es
uns geholfen haben, wenn wir selbständig geblieben wären? Die Verwir¬
rung bei uns würde noch unendlich größer und ohne Ende gewesen sein.
Unser Unglück kam nicht in Begleitung oder mit der Herrschaft der Franzosen,
sondern es kam daher, daß wir unsere Reform ohne sie nicht ausführen
konnten." Es war eine traurige Zeit, wo man einen Fremdling sich zum
König erbat, da man sich selbst nicht mehr regieren konnte, und wo man
diesen König mit Jubel empfing. Noch trauriger war es, daß man diesen König
in seinen Plänen für die Unabhängigkeit des Landes nicht zu unterstützen wagte.

Dennoch war die Einverleibung Hollands in Frankreich nicht ohne
Segen für die Zukunft, denn durch sie allein war eine gänzliche Umgestal¬
tung der durch und durch verrotteten Zustände möglich; ohne sie würde
die alte Wirthschaft wohl niemals rein ausgefegt worden sein; finden sich
die Spuren derselben doch auch jetzt noch! Aeußerlich in der Form ist Alles
zwar ganz anders geworden, aber in. den selten und Gewohnheiten des
Volkes ist noch ein beträchtlicher Nest lebendig geblieben. Auch in andern
Ländern hatte die französische Herrschaft Vieles, was faul war, beseitigt, und auch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0170" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136809"/>
          <p xml:id="ID_447" prev="#ID_446"> und Preußen eroberte das Land in wenigen Tagen und fast ohne Wider¬<lb/>
stand für den Prinzen von Oranien. Eine fremde Macht nöthigte ihren<lb/>
Willen denjenigen auf, die noch kurz vorher sich hoch über ihre Feinde erhaben<lb/>
dünkten, jetzt aber nicht den Muth hatten, für ihre Ueberzeugung ein Opfer<lb/>
zu bringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_448"> Acht Jahre später fand dasselbe schmähliche Schauspiel statt, nur mit<lb/>
dem Unterschiede, daß die Franzosen zur Vertreibung des Erbstatthalters<lb/>
in's Land gerufen wurden, und daß die Folgen dieser gänzlich un¬<lb/>
blutigen Invasion zur völligen Vernichtung der Republik führten. Die<lb/>
batavische Republik zeigte sich lebensunfähig. Das Königreich Holland<lb/>
starb trotz der wohlmeinenden Anstrengungen Ludwig Napoleons an Kraft¬<lb/>
losigkeit. Die Einverleibung in Frankreich erfolgte. Thorbecke äußert sich<lb/>
über diese Periode: &#x201E;Man wendet seinen Blick gerne von einem solchen Schau¬<lb/>
spiel ab, und doch ist es weniger heilsam, unsere Größe zu bewundern, als<lb/>
unsere Schwäche zu betrachten. Gutgesinnte, ihr Land aufrichtig liebende<lb/>
Männer bringen aus Angst Eid, Pflicht, Ueberzeugung und Ehre zum<lb/>
Schweigen, um einen König zu verlangen, den sie nicht wollen. Eine Er¬<lb/>
scheinung, die nicht die erste und einzige in unserer politischen Geschichte ist.<lb/>
.... Diejenigen, welche damals lebten, hielten unsere Unterwerfung unter einen<lb/>
fremden König und ein fremdes Gesetz für die alleinige oder hauptsächliche<lb/>
Folge von Napoleons Uebermuth und Gewalt. Wir stehen den Ereignissen<lb/>
ferne genug, um sie im Zusammenhang mit der ganzen Reihe Begebenheiten<lb/>
seit 1793 zu betrachten. Wie schmerzlich auch der Zweifel sei, wagt Jemand<lb/>
von uns zu behaupten, daß wir ein besseres Loos verdienten? Würde es<lb/>
uns geholfen haben, wenn wir selbständig geblieben wären? Die Verwir¬<lb/>
rung bei uns würde noch unendlich größer und ohne Ende gewesen sein.<lb/>
Unser Unglück kam nicht in Begleitung oder mit der Herrschaft der Franzosen,<lb/>
sondern es kam daher, daß wir unsere Reform ohne sie nicht ausführen<lb/>
konnten." Es war eine traurige Zeit, wo man einen Fremdling sich zum<lb/>
König erbat, da man sich selbst nicht mehr regieren konnte, und wo man<lb/>
diesen König mit Jubel empfing. Noch trauriger war es, daß man diesen König<lb/>
in seinen Plänen für die Unabhängigkeit des Landes nicht zu unterstützen wagte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_449" next="#ID_450"> Dennoch war die Einverleibung Hollands in Frankreich nicht ohne<lb/>
Segen für die Zukunft, denn durch sie allein war eine gänzliche Umgestal¬<lb/>
tung der durch und durch verrotteten Zustände möglich; ohne sie würde<lb/>
die alte Wirthschaft wohl niemals rein ausgefegt worden sein; finden sich<lb/>
die Spuren derselben doch auch jetzt noch! Aeußerlich in der Form ist Alles<lb/>
zwar ganz anders geworden, aber in. den selten und Gewohnheiten des<lb/>
Volkes ist noch ein beträchtlicher Nest lebendig geblieben. Auch in andern<lb/>
Ländern hatte die französische Herrschaft Vieles, was faul war, beseitigt, und auch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0170] und Preußen eroberte das Land in wenigen Tagen und fast ohne Wider¬ stand für den Prinzen von Oranien. Eine fremde Macht nöthigte ihren Willen denjenigen auf, die noch kurz vorher sich hoch über ihre Feinde erhaben dünkten, jetzt aber nicht den Muth hatten, für ihre Ueberzeugung ein Opfer zu bringen. Acht Jahre später fand dasselbe schmähliche Schauspiel statt, nur mit dem Unterschiede, daß die Franzosen zur Vertreibung des Erbstatthalters in's Land gerufen wurden, und daß die Folgen dieser gänzlich un¬ blutigen Invasion zur völligen Vernichtung der Republik führten. Die batavische Republik zeigte sich lebensunfähig. Das Königreich Holland starb trotz der wohlmeinenden Anstrengungen Ludwig Napoleons an Kraft¬ losigkeit. Die Einverleibung in Frankreich erfolgte. Thorbecke äußert sich über diese Periode: „Man wendet seinen Blick gerne von einem solchen Schau¬ spiel ab, und doch ist es weniger heilsam, unsere Größe zu bewundern, als unsere Schwäche zu betrachten. Gutgesinnte, ihr Land aufrichtig liebende Männer bringen aus Angst Eid, Pflicht, Ueberzeugung und Ehre zum Schweigen, um einen König zu verlangen, den sie nicht wollen. Eine Er¬ scheinung, die nicht die erste und einzige in unserer politischen Geschichte ist. .... Diejenigen, welche damals lebten, hielten unsere Unterwerfung unter einen fremden König und ein fremdes Gesetz für die alleinige oder hauptsächliche Folge von Napoleons Uebermuth und Gewalt. Wir stehen den Ereignissen ferne genug, um sie im Zusammenhang mit der ganzen Reihe Begebenheiten seit 1793 zu betrachten. Wie schmerzlich auch der Zweifel sei, wagt Jemand von uns zu behaupten, daß wir ein besseres Loos verdienten? Würde es uns geholfen haben, wenn wir selbständig geblieben wären? Die Verwir¬ rung bei uns würde noch unendlich größer und ohne Ende gewesen sein. Unser Unglück kam nicht in Begleitung oder mit der Herrschaft der Franzosen, sondern es kam daher, daß wir unsere Reform ohne sie nicht ausführen konnten." Es war eine traurige Zeit, wo man einen Fremdling sich zum König erbat, da man sich selbst nicht mehr regieren konnte, und wo man diesen König mit Jubel empfing. Noch trauriger war es, daß man diesen König in seinen Plänen für die Unabhängigkeit des Landes nicht zu unterstützen wagte. Dennoch war die Einverleibung Hollands in Frankreich nicht ohne Segen für die Zukunft, denn durch sie allein war eine gänzliche Umgestal¬ tung der durch und durch verrotteten Zustände möglich; ohne sie würde die alte Wirthschaft wohl niemals rein ausgefegt worden sein; finden sich die Spuren derselben doch auch jetzt noch! Aeußerlich in der Form ist Alles zwar ganz anders geworden, aber in. den selten und Gewohnheiten des Volkes ist noch ein beträchtlicher Nest lebendig geblieben. Auch in andern Ländern hatte die französische Herrschaft Vieles, was faul war, beseitigt, und auch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/170
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/170>, abgerufen am 20.10.2024.