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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Staufacher. Walter Fürst und Arnold Melchthal. Während diese drei zu¬
sammen auf dem Rutil sich berathen und den Schweizerbund stiften, schließt
Tell sich selbst von ihrer Versammlung aus, legt sich in der hohlen Gasse
auf die Lauer und schießt aus dem Versteck den Landvogt vom Pferde. Die
Sage bleibt bei alledem mangelhaft, aber diese ihre Mangelhaftigkeit erklärt
sich, wenn wir mit Rochholz auf ihren Grund zurückgehen und ihre Ent¬
wickelung verfolgen. Ihr Kern und Keim ist das Erliegen des Winterriesen
vor den Pfeilen des Frühlings. Indem diese Naturmythe sich in eine That¬
sache mit ethischem Inhalt verwandelte, verlor sie ihr einheitliches Wesen und
nahm bedenkliche und unvereinbare Züge an. "Der Tyrann erliegt dem
meuchelmörderischen Pfeilschützen, ohne daß ein Zweikampf zwischen beiden
vorausgegangen wäre. Der Meisterschütze hat das ihm gesteckte Ziel bereits
getroffen, er läßt jetzt den zweiten Pfeil, der dem Vogte für den Fall eines
Fehlschusses zugedacht ist, im Goller und bekennt, für wen er bestimmt ge¬
wesen. Dennoch thut er wenige Stunden nachher den meuchlerischen Schuß.
Diese feige That sucht nach einer Entschuldigung, aber die vorgebrachten
Gründe reichen nicht aus. Der Mord geschieht ja nicht aus Nothwehr;
denn der Schütze ist bereits frei, er ist auch keine vom Landesgesetze gebilligte
Blutrache; denn nicht das Kind, sondern der Apfel ist getroffen. Was bleibt
also bei solchem Morde Anderes übrig, als die Rachethat eines in seinem
Blödsinn zur Unzeit gereizten Thoren." So ist die Dümmlingssage in die
Tellsage gekommen, und zwar durch das Volksgewissen, welches eine sittlich
nicht zu rechtfertigende That wenigstens erklärt sehen wollte, und der Bolks-
mund hat aus seinem Wortvorrath den redenden Beinamen Tell dazu ge¬
geben. Einen Narren zum Nationalhelden, einen Meuchelmörder zum Be¬
gründer der Freiheit zu machen, ist dem Volke nie eingefallen. Dieß war
den regierenden Herren und deren Chronikschreibern vorbehalten, seitdem diese
den schweizerischen Nationalstolz gepachtet hatten. "Sie, die nun selbst die
Tyrannen im Lande spielten, ließen in Tell das Recht des Tyrannenmordes
verherrlichen. Tschudi, bald dieser Magnaten Werkzeug, bald ihr Mitregent,
kam dem bekannten Moralsystem des Jesuiten Busenbaum zuvor und ver¬
theidigte in seiner Chronik den Fürstenmord offen. Viel klüger, sagt er,
würden die Eidgenossen gethan haben, sich mit den fünf Mördern des Kaisers
Albrecht zu verbünden, statt sie von sich zu weisen. Sei es doch der Er¬
mordete gewesen, welcher den drei Ländern die Bestätigung ihrer Freiheiten
verweigert habe, sodaß sie alsdann von Oesterreich angegriffen und zur
Schlacht bei Morgarten gezwungen worden seien. Darum habe es nachmals
die drei Länder auch zu reuen begonnen, daß sie sich des Herzogs Johann
und seiner Mitverschwornen nicht angenommen und ihm nicht geholfen hätten,
der doch so treulich an ihnen gehandelt und ihnen vorhergesagt habe, wie es


Staufacher. Walter Fürst und Arnold Melchthal. Während diese drei zu¬
sammen auf dem Rutil sich berathen und den Schweizerbund stiften, schließt
Tell sich selbst von ihrer Versammlung aus, legt sich in der hohlen Gasse
auf die Lauer und schießt aus dem Versteck den Landvogt vom Pferde. Die
Sage bleibt bei alledem mangelhaft, aber diese ihre Mangelhaftigkeit erklärt
sich, wenn wir mit Rochholz auf ihren Grund zurückgehen und ihre Ent¬
wickelung verfolgen. Ihr Kern und Keim ist das Erliegen des Winterriesen
vor den Pfeilen des Frühlings. Indem diese Naturmythe sich in eine That¬
sache mit ethischem Inhalt verwandelte, verlor sie ihr einheitliches Wesen und
nahm bedenkliche und unvereinbare Züge an. „Der Tyrann erliegt dem
meuchelmörderischen Pfeilschützen, ohne daß ein Zweikampf zwischen beiden
vorausgegangen wäre. Der Meisterschütze hat das ihm gesteckte Ziel bereits
getroffen, er läßt jetzt den zweiten Pfeil, der dem Vogte für den Fall eines
Fehlschusses zugedacht ist, im Goller und bekennt, für wen er bestimmt ge¬
wesen. Dennoch thut er wenige Stunden nachher den meuchlerischen Schuß.
Diese feige That sucht nach einer Entschuldigung, aber die vorgebrachten
Gründe reichen nicht aus. Der Mord geschieht ja nicht aus Nothwehr;
denn der Schütze ist bereits frei, er ist auch keine vom Landesgesetze gebilligte
Blutrache; denn nicht das Kind, sondern der Apfel ist getroffen. Was bleibt
also bei solchem Morde Anderes übrig, als die Rachethat eines in seinem
Blödsinn zur Unzeit gereizten Thoren." So ist die Dümmlingssage in die
Tellsage gekommen, und zwar durch das Volksgewissen, welches eine sittlich
nicht zu rechtfertigende That wenigstens erklärt sehen wollte, und der Bolks-
mund hat aus seinem Wortvorrath den redenden Beinamen Tell dazu ge¬
geben. Einen Narren zum Nationalhelden, einen Meuchelmörder zum Be¬
gründer der Freiheit zu machen, ist dem Volke nie eingefallen. Dieß war
den regierenden Herren und deren Chronikschreibern vorbehalten, seitdem diese
den schweizerischen Nationalstolz gepachtet hatten. „Sie, die nun selbst die
Tyrannen im Lande spielten, ließen in Tell das Recht des Tyrannenmordes
verherrlichen. Tschudi, bald dieser Magnaten Werkzeug, bald ihr Mitregent,
kam dem bekannten Moralsystem des Jesuiten Busenbaum zuvor und ver¬
theidigte in seiner Chronik den Fürstenmord offen. Viel klüger, sagt er,
würden die Eidgenossen gethan haben, sich mit den fünf Mördern des Kaisers
Albrecht zu verbünden, statt sie von sich zu weisen. Sei es doch der Er¬
mordete gewesen, welcher den drei Ländern die Bestätigung ihrer Freiheiten
verweigert habe, sodaß sie alsdann von Oesterreich angegriffen und zur
Schlacht bei Morgarten gezwungen worden seien. Darum habe es nachmals
die drei Länder auch zu reuen begonnen, daß sie sich des Herzogs Johann
und seiner Mitverschwornen nicht angenommen und ihm nicht geholfen hätten,
der doch so treulich an ihnen gehandelt und ihnen vorhergesagt habe, wie es


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[0145] Staufacher. Walter Fürst und Arnold Melchthal. Während diese drei zu¬ sammen auf dem Rutil sich berathen und den Schweizerbund stiften, schließt Tell sich selbst von ihrer Versammlung aus, legt sich in der hohlen Gasse auf die Lauer und schießt aus dem Versteck den Landvogt vom Pferde. Die Sage bleibt bei alledem mangelhaft, aber diese ihre Mangelhaftigkeit erklärt sich, wenn wir mit Rochholz auf ihren Grund zurückgehen und ihre Ent¬ wickelung verfolgen. Ihr Kern und Keim ist das Erliegen des Winterriesen vor den Pfeilen des Frühlings. Indem diese Naturmythe sich in eine That¬ sache mit ethischem Inhalt verwandelte, verlor sie ihr einheitliches Wesen und nahm bedenkliche und unvereinbare Züge an. „Der Tyrann erliegt dem meuchelmörderischen Pfeilschützen, ohne daß ein Zweikampf zwischen beiden vorausgegangen wäre. Der Meisterschütze hat das ihm gesteckte Ziel bereits getroffen, er läßt jetzt den zweiten Pfeil, der dem Vogte für den Fall eines Fehlschusses zugedacht ist, im Goller und bekennt, für wen er bestimmt ge¬ wesen. Dennoch thut er wenige Stunden nachher den meuchlerischen Schuß. Diese feige That sucht nach einer Entschuldigung, aber die vorgebrachten Gründe reichen nicht aus. Der Mord geschieht ja nicht aus Nothwehr; denn der Schütze ist bereits frei, er ist auch keine vom Landesgesetze gebilligte Blutrache; denn nicht das Kind, sondern der Apfel ist getroffen. Was bleibt also bei solchem Morde Anderes übrig, als die Rachethat eines in seinem Blödsinn zur Unzeit gereizten Thoren." So ist die Dümmlingssage in die Tellsage gekommen, und zwar durch das Volksgewissen, welches eine sittlich nicht zu rechtfertigende That wenigstens erklärt sehen wollte, und der Bolks- mund hat aus seinem Wortvorrath den redenden Beinamen Tell dazu ge¬ geben. Einen Narren zum Nationalhelden, einen Meuchelmörder zum Be¬ gründer der Freiheit zu machen, ist dem Volke nie eingefallen. Dieß war den regierenden Herren und deren Chronikschreibern vorbehalten, seitdem diese den schweizerischen Nationalstolz gepachtet hatten. „Sie, die nun selbst die Tyrannen im Lande spielten, ließen in Tell das Recht des Tyrannenmordes verherrlichen. Tschudi, bald dieser Magnaten Werkzeug, bald ihr Mitregent, kam dem bekannten Moralsystem des Jesuiten Busenbaum zuvor und ver¬ theidigte in seiner Chronik den Fürstenmord offen. Viel klüger, sagt er, würden die Eidgenossen gethan haben, sich mit den fünf Mördern des Kaisers Albrecht zu verbünden, statt sie von sich zu weisen. Sei es doch der Er¬ mordete gewesen, welcher den drei Ländern die Bestätigung ihrer Freiheiten verweigert habe, sodaß sie alsdann von Oesterreich angegriffen und zur Schlacht bei Morgarten gezwungen worden seien. Darum habe es nachmals die drei Länder auch zu reuen begonnen, daß sie sich des Herzogs Johann und seiner Mitverschwornen nicht angenommen und ihm nicht geholfen hätten, der doch so treulich an ihnen gehandelt und ihnen vorhergesagt habe, wie es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/145>, abgerufen am 27.09.2024.