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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Wenn der Muhamedaner Weib oder Tochter, Vieh oder Ernte des Christen
begehrt, so hat er das Recht, sie sich anzueignen, und da er auch die Gewalt
hat, so steht dem Begehren nichts entgegen. Nur der Muhamedaner darf
in Bosnien Waffen tragen, nur er kann Beamter werden, er allein hat das
Recht, sich einen Bosnier zu nennen, der eingeborne Christ heißt, sofern er
Gemeinden bildet, "Raja" (Unterthan), als Einzelner "Wlache", vom Mus¬
lim angeredet "Dschaur" (Hund).

Die muhamedanischen Bosnier sind, wie gesagt, die bei weitem kleinere
Hälfte des Volkes, aber sie geberden sich als der Kern desselben. Sie treten
zwar als fanatische Anhänger des Propheten auf, haben aber in Brauch und
Sage viel christliche Ketzerei behalten. Die Volkspoesie. durch und durch
christlich und serbisch, hat die Apostasie der Stammesbrüder überlebt. Muha-
medanische und christliche Serbenmädchen der böhmischen Thäler singen, obwohl
ihre Beziehungen zum Manne völlig verschieden sind, dieselben Liebeslieder.
Der böhmische Muslim hört ebenso gern wie der böhmische Christ die alten
Heldenlieder, die der blinde Guslaspteler von den Thaten des Marko Kralje-
witsch, des Milosch Obilitsch und anderer Nationalhelden singt, obwohl diese
Gesänge das Christenthum verherrlichen und von den Siegen der Serben über
die Türken erzählen. singt jedoch der Anhänger des Islam diese Lieder, so
kehrt er die Sache um, und der Türke wird zum Sieger über den Christen.
Dieß und die Einflechtung schwülstiger Bilder und Phrasen im Liebesliede sind
die einzigen Veränderungen, die der alte Volksgesang im Munde der einge-
bornen Muhamedaner erlitten hat. Ebenso ist die Sprache die alte geblieben,
nur hat sie eine Anzahl türkischer Wörter aufgenommen. Anders dagegen
steht es mit Sitte, Wohnung und Lebensweise, welche die Serben Bosniens
einst mit den Stammgenossen im Osten und Westen gemein hatten, die aber
der Islam wesentlich verändert hat.

Das slavische Familienleben ist bei den muhamedanischen Serben voll¬
ständig zerstört. Wenn auch nur die Reicheren und selbst diese nicht alle in
Vielweiberei leben, so ist die Stellung der Frau und der Kinder doch ge¬
wöhnlich nur die von Sklaven gegenüber dem Herrn. In der alten Zeit
wohnte wie heute noch in Serbien die Familie zusammen auf dem ererbten
Grundstück, das ungetheilt blieb. Das Haus war wie ein Bienenstock, jeder
Sohn baute', wenn er sich ein Weib nahm, eine neue Zelle an, und dessen
Sohn that, wenn er sich verheiratete, desgleichen. Um einen Herd sammelte
sich die ganze Familie. Starb das Haupt derselben, so wurde das Gut
nicht zerschlagen, es gehörte nach wie vor Allen, und einer der Familien¬
glieder wurde durch Geburtsrecht oder Wahl Vertreter der übrigen nach
Außen hin. Die Brüder und Neffen ehrten ihn und gehorchten ihm. Daher
stammt in Serbien jene eigenthümliche Ausbildung der Familiengefühle, die


Wenn der Muhamedaner Weib oder Tochter, Vieh oder Ernte des Christen
begehrt, so hat er das Recht, sie sich anzueignen, und da er auch die Gewalt
hat, so steht dem Begehren nichts entgegen. Nur der Muhamedaner darf
in Bosnien Waffen tragen, nur er kann Beamter werden, er allein hat das
Recht, sich einen Bosnier zu nennen, der eingeborne Christ heißt, sofern er
Gemeinden bildet, „Raja" (Unterthan), als Einzelner „Wlache", vom Mus¬
lim angeredet „Dschaur" (Hund).

Die muhamedanischen Bosnier sind, wie gesagt, die bei weitem kleinere
Hälfte des Volkes, aber sie geberden sich als der Kern desselben. Sie treten
zwar als fanatische Anhänger des Propheten auf, haben aber in Brauch und
Sage viel christliche Ketzerei behalten. Die Volkspoesie. durch und durch
christlich und serbisch, hat die Apostasie der Stammesbrüder überlebt. Muha-
medanische und christliche Serbenmädchen der böhmischen Thäler singen, obwohl
ihre Beziehungen zum Manne völlig verschieden sind, dieselben Liebeslieder.
Der böhmische Muslim hört ebenso gern wie der böhmische Christ die alten
Heldenlieder, die der blinde Guslaspteler von den Thaten des Marko Kralje-
witsch, des Milosch Obilitsch und anderer Nationalhelden singt, obwohl diese
Gesänge das Christenthum verherrlichen und von den Siegen der Serben über
die Türken erzählen. singt jedoch der Anhänger des Islam diese Lieder, so
kehrt er die Sache um, und der Türke wird zum Sieger über den Christen.
Dieß und die Einflechtung schwülstiger Bilder und Phrasen im Liebesliede sind
die einzigen Veränderungen, die der alte Volksgesang im Munde der einge-
bornen Muhamedaner erlitten hat. Ebenso ist die Sprache die alte geblieben,
nur hat sie eine Anzahl türkischer Wörter aufgenommen. Anders dagegen
steht es mit Sitte, Wohnung und Lebensweise, welche die Serben Bosniens
einst mit den Stammgenossen im Osten und Westen gemein hatten, die aber
der Islam wesentlich verändert hat.

Das slavische Familienleben ist bei den muhamedanischen Serben voll¬
ständig zerstört. Wenn auch nur die Reicheren und selbst diese nicht alle in
Vielweiberei leben, so ist die Stellung der Frau und der Kinder doch ge¬
wöhnlich nur die von Sklaven gegenüber dem Herrn. In der alten Zeit
wohnte wie heute noch in Serbien die Familie zusammen auf dem ererbten
Grundstück, das ungetheilt blieb. Das Haus war wie ein Bienenstock, jeder
Sohn baute', wenn er sich ein Weib nahm, eine neue Zelle an, und dessen
Sohn that, wenn er sich verheiratete, desgleichen. Um einen Herd sammelte
sich die ganze Familie. Starb das Haupt derselben, so wurde das Gut
nicht zerschlagen, es gehörte nach wie vor Allen, und einer der Familien¬
glieder wurde durch Geburtsrecht oder Wahl Vertreter der übrigen nach
Außen hin. Die Brüder und Neffen ehrten ihn und gehorchten ihm. Daher
stammt in Serbien jene eigenthümliche Ausbildung der Familiengefühle, die


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[0069] Wenn der Muhamedaner Weib oder Tochter, Vieh oder Ernte des Christen begehrt, so hat er das Recht, sie sich anzueignen, und da er auch die Gewalt hat, so steht dem Begehren nichts entgegen. Nur der Muhamedaner darf in Bosnien Waffen tragen, nur er kann Beamter werden, er allein hat das Recht, sich einen Bosnier zu nennen, der eingeborne Christ heißt, sofern er Gemeinden bildet, „Raja" (Unterthan), als Einzelner „Wlache", vom Mus¬ lim angeredet „Dschaur" (Hund). Die muhamedanischen Bosnier sind, wie gesagt, die bei weitem kleinere Hälfte des Volkes, aber sie geberden sich als der Kern desselben. Sie treten zwar als fanatische Anhänger des Propheten auf, haben aber in Brauch und Sage viel christliche Ketzerei behalten. Die Volkspoesie. durch und durch christlich und serbisch, hat die Apostasie der Stammesbrüder überlebt. Muha- medanische und christliche Serbenmädchen der böhmischen Thäler singen, obwohl ihre Beziehungen zum Manne völlig verschieden sind, dieselben Liebeslieder. Der böhmische Muslim hört ebenso gern wie der böhmische Christ die alten Heldenlieder, die der blinde Guslaspteler von den Thaten des Marko Kralje- witsch, des Milosch Obilitsch und anderer Nationalhelden singt, obwohl diese Gesänge das Christenthum verherrlichen und von den Siegen der Serben über die Türken erzählen. singt jedoch der Anhänger des Islam diese Lieder, so kehrt er die Sache um, und der Türke wird zum Sieger über den Christen. Dieß und die Einflechtung schwülstiger Bilder und Phrasen im Liebesliede sind die einzigen Veränderungen, die der alte Volksgesang im Munde der einge- bornen Muhamedaner erlitten hat. Ebenso ist die Sprache die alte geblieben, nur hat sie eine Anzahl türkischer Wörter aufgenommen. Anders dagegen steht es mit Sitte, Wohnung und Lebensweise, welche die Serben Bosniens einst mit den Stammgenossen im Osten und Westen gemein hatten, die aber der Islam wesentlich verändert hat. Das slavische Familienleben ist bei den muhamedanischen Serben voll¬ ständig zerstört. Wenn auch nur die Reicheren und selbst diese nicht alle in Vielweiberei leben, so ist die Stellung der Frau und der Kinder doch ge¬ wöhnlich nur die von Sklaven gegenüber dem Herrn. In der alten Zeit wohnte wie heute noch in Serbien die Familie zusammen auf dem ererbten Grundstück, das ungetheilt blieb. Das Haus war wie ein Bienenstock, jeder Sohn baute', wenn er sich ein Weib nahm, eine neue Zelle an, und dessen Sohn that, wenn er sich verheiratete, desgleichen. Um einen Herd sammelte sich die ganze Familie. Starb das Haupt derselben, so wurde das Gut nicht zerschlagen, es gehörte nach wie vor Allen, und einer der Familien¬ glieder wurde durch Geburtsrecht oder Wahl Vertreter der übrigen nach Außen hin. Die Brüder und Neffen ehrten ihn und gehorchten ihm. Daher stammt in Serbien jene eigenthümliche Ausbildung der Familiengefühle, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/69>, abgerufen am 27.09.2024.