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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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aber so wenig verhindert werden können, wie die Trennung Griechenlands
und Rumäniens und das Selbständigwerden Serbiens und Montenegros
aufzuhalten war. Auf Bosnien wird Bulgarien folgen und zuletzt auch die
Hauptstadt mit ihrer unmittelbaren Umgebung.

Was die Zeit, wenn dieser natürliche Entwickelungsgang keine Unter¬
brechung von Außen erfährt, aus den aus diese Weise entstehenden kleinen
Staatswesen, die, abgesehen von Rumänien, durchgehends eine und dieselbe
Sprache sprechen und mit nicht sehr bedeutenden Ausnahmen einem und dem¬
selben Glauben angehören, gestalten wird, ob sie, etwa unter Protection der
Großmächte, getrennt von einander als neutrale Ländchen eine Zeitlang fort-
existiren, ob sie, wie wahrscheinlicher, zu einem größerm Serbenreiche zusammen¬
fließen werden, neben dem die Rumänen selbständig bleiben, ist nicht zu
sagen. Gewiß ist nur, daß die Zustände in diesen neuen Kleinstaaten zwar
nicht sehr erquicklich -- denn wir haben es hier mit Halbbarbaren zu thun
-- aber immerhin erheblich besser sein werden als jetzt, trotz aller Reformerlasse
der Sultane in den letzten zwanzig Jahren. Und als ebenfalls sicher darf
man annehmen, daß in Petersburg diese Gestaltung der Verhältnisse, führe
sie nun zu einem halben Dutzend von Kleinstaaten oder zu einem Bunde
solcher oder zu einem großserbischen Reiche mit Einschluß Bulgariens, aber
mit Ausschluß Rumäniens, Konstantinopels und Macedoniens, vielleicht mit
Recht, nicht als das Ende der Dinge angesehen wird. Für uns im deutschen
Reiche endlich, die wir uns gewöhnen müssen, die geschichtlichen Entwickelungen
vom Standpunkte unseres Interesses zu betrachten und zu beurtheilen, und
nur von diesem, hat die Zukunft der Balkanhalbinsel direct nichts Bedroh¬
liches, und selbst im schlimmsten Falle würde für uns nur die Folge sein,
daß Oesterreich-Ungarn bestimmter und untrennbarer auf unsere Bundesge¬
nossenschaft angewiesen wäre.

Verlassen wir nun die Zukunft und beschäftigen wir uns lediglich mit
der Gegenwart und Vergangenheit unseres Gegenstandes. Der südslavische
Stamm bewohnt das Fürstenthum Serbien, Bosnien mit der Herzegowina,
Montenegro, ferner Dalmatien, Kroatien, Slavonien, die ehemalige Militär¬
grenze und den südlichen Theil des Banats, die sogenannte Woiwodina.
Rechnen wir dazu noch die zwar nicht stammverwandten, aber seit Jahrhun¬
derten schon serbisch sprechenden Bulgaren, so umfaßt dieses Volk etwa sechs
Millionen Menschen, von denen ungefähr die Hälfte auf Bulgarien und
circa anderthalb Millionen auf Bosnien und die Herzegowina kommen.
Dem Glauben nach gehört die große Mehrzahl der Südslaven der orthodoxen
morgenländischen Kirche an; dieß gilt von den Bewohnern Serbiens und
Montenegros ausnahmslos, die von Bulgarien sind, soweit sie Christen sind,
demselben Bekenntniß zugethan, die österreich-ungarischen Südslaven sind theils


aber so wenig verhindert werden können, wie die Trennung Griechenlands
und Rumäniens und das Selbständigwerden Serbiens und Montenegros
aufzuhalten war. Auf Bosnien wird Bulgarien folgen und zuletzt auch die
Hauptstadt mit ihrer unmittelbaren Umgebung.

Was die Zeit, wenn dieser natürliche Entwickelungsgang keine Unter¬
brechung von Außen erfährt, aus den aus diese Weise entstehenden kleinen
Staatswesen, die, abgesehen von Rumänien, durchgehends eine und dieselbe
Sprache sprechen und mit nicht sehr bedeutenden Ausnahmen einem und dem¬
selben Glauben angehören, gestalten wird, ob sie, etwa unter Protection der
Großmächte, getrennt von einander als neutrale Ländchen eine Zeitlang fort-
existiren, ob sie, wie wahrscheinlicher, zu einem größerm Serbenreiche zusammen¬
fließen werden, neben dem die Rumänen selbständig bleiben, ist nicht zu
sagen. Gewiß ist nur, daß die Zustände in diesen neuen Kleinstaaten zwar
nicht sehr erquicklich — denn wir haben es hier mit Halbbarbaren zu thun
— aber immerhin erheblich besser sein werden als jetzt, trotz aller Reformerlasse
der Sultane in den letzten zwanzig Jahren. Und als ebenfalls sicher darf
man annehmen, daß in Petersburg diese Gestaltung der Verhältnisse, führe
sie nun zu einem halben Dutzend von Kleinstaaten oder zu einem Bunde
solcher oder zu einem großserbischen Reiche mit Einschluß Bulgariens, aber
mit Ausschluß Rumäniens, Konstantinopels und Macedoniens, vielleicht mit
Recht, nicht als das Ende der Dinge angesehen wird. Für uns im deutschen
Reiche endlich, die wir uns gewöhnen müssen, die geschichtlichen Entwickelungen
vom Standpunkte unseres Interesses zu betrachten und zu beurtheilen, und
nur von diesem, hat die Zukunft der Balkanhalbinsel direct nichts Bedroh¬
liches, und selbst im schlimmsten Falle würde für uns nur die Folge sein,
daß Oesterreich-Ungarn bestimmter und untrennbarer auf unsere Bundesge¬
nossenschaft angewiesen wäre.

Verlassen wir nun die Zukunft und beschäftigen wir uns lediglich mit
der Gegenwart und Vergangenheit unseres Gegenstandes. Der südslavische
Stamm bewohnt das Fürstenthum Serbien, Bosnien mit der Herzegowina,
Montenegro, ferner Dalmatien, Kroatien, Slavonien, die ehemalige Militär¬
grenze und den südlichen Theil des Banats, die sogenannte Woiwodina.
Rechnen wir dazu noch die zwar nicht stammverwandten, aber seit Jahrhun¬
derten schon serbisch sprechenden Bulgaren, so umfaßt dieses Volk etwa sechs
Millionen Menschen, von denen ungefähr die Hälfte auf Bulgarien und
circa anderthalb Millionen auf Bosnien und die Herzegowina kommen.
Dem Glauben nach gehört die große Mehrzahl der Südslaven der orthodoxen
morgenländischen Kirche an; dieß gilt von den Bewohnern Serbiens und
Montenegros ausnahmslos, die von Bulgarien sind, soweit sie Christen sind,
demselben Bekenntniß zugethan, die österreich-ungarischen Südslaven sind theils


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/66>, abgerufen am 20.10.2024.