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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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man es kaum glauben, daß sich inmitten dieser Ruhe ein so ausgebreitetes
künstlerisches Leben, eine solche geistige Bewegung verbergen". Dieselbe über¬
raschend feine Beobachtung überall, wo man das Buch aufschlägt. Auf der
Fahrt von München nach Lichtenfels macht Herr Filippo Dr. Filippi die
interessante Wahrnehmung, daß die Sonne "im Westen" versinkt, und in
Weimar am Geburtstage des Großherzogs die nicht minder merkwürdige
Entdeckung, daß die Schuljugend in Deutschland "in langen horizontalen
Reihen" marschirt. Jedenfalls marschiren die Schulbuben in Mailand "in ver-
ticalen Reihen", denn solchen Jungen wie die, aus deren "Reihen" Herr Filippo
Dr. Filippi hervorgegangen ist, ist alles zuzutrauen. Tiefe Einblicke hat
unser Wagnerjünger auch in die politische Parteibildung Deutschlands ge¬
than. "Unter Philister versteht man in Deutschland die Anhänger des alten
Systems, im Gegensatz zu den Davidsbündlern. welche die Proselyten-
macher der Zukunft sind, so genannt von einer Gesellschaft junger Studenten
und Musiker, die jenem wahren David der Musik, dem unglücklichen Robert
Schumann ihre Gründung verdankt". Das hätte Schumann ahnen sollen,
daß seine "Davidsbündlertänze" eine derartige Tragweite erlangen würden!

Doch genug des Scherzes! -- Wo nimmt eine deutsche Verlagshandlung
den Muth her, solch einen dörrenden Unsinn übersetzen und drucken zu lassen
und auch noch selber Reclame dafür zu machen? Keine deutsche Zeitung
würde diesen Trivialitäten ihr Feuilleton öffnen, und eine deutsche Verlagshand¬
lung läßt dieses Zeug, welches für italienische Feuilletons vielleicht gut genug
sein mag. übersetzen, um es in Buchform herauszugeben? Wenn ein italie¬
nischer Buchhändler die Reiseberichte über Italiens Kunstschätze, die irgend
ein beliebiger deutscher Dutzendtourist an seine Freunde und Gevattern nach
Hause geschrieben, ins Italienische übersetzen lassen und seinen Landsleuten
zum Studium empfehlen wollte, es würde ganz dieselbe Geschichte sein.
Stellenweise lesen sich diese Feuilletons des Herrn Filippo Dr. Filippi factisch
wie die Ferienreisebeschreibung eines deutschen Untertertianers, und namentlich
wenn er witzig werden will, so ist es gleich, als ob man Leibweh bekommen sollte.
Es kommt aber noch ein Moment hinzu, bei welchem der Spaß von selber
aufhört. Dieser Herr Filippo Dr. Filippi ist obendrein ein enragtrter
Preußenfresser, der seinem Preußenhaß bet jeder Gelegenheit Luft macht.
"Weimar ist doch die Hauptstadt eines Großherzogthums und. so verpreußt
sie auch sein mag. durch ihre künstlerischen Erinnerungen eine der bedeu¬
tendsten von allen" -- "Weimar ist ein kleiner Staat, der durch die Ver-
preußung seinen autonomen Organismus eingebüßt hat. und dem nur der
Schein einer Regierung, eines Hofes und einer Administration geblieben ist"
-- ..Trotz der preußischen Invasion herrschen allerorts noch patriarchalische
Zustände" -- "Erfurt ist eine der großen Festungen des Bundes, mit preußt-


man es kaum glauben, daß sich inmitten dieser Ruhe ein so ausgebreitetes
künstlerisches Leben, eine solche geistige Bewegung verbergen". Dieselbe über¬
raschend feine Beobachtung überall, wo man das Buch aufschlägt. Auf der
Fahrt von München nach Lichtenfels macht Herr Filippo Dr. Filippi die
interessante Wahrnehmung, daß die Sonne „im Westen" versinkt, und in
Weimar am Geburtstage des Großherzogs die nicht minder merkwürdige
Entdeckung, daß die Schuljugend in Deutschland „in langen horizontalen
Reihen" marschirt. Jedenfalls marschiren die Schulbuben in Mailand „in ver-
ticalen Reihen", denn solchen Jungen wie die, aus deren „Reihen" Herr Filippo
Dr. Filippi hervorgegangen ist, ist alles zuzutrauen. Tiefe Einblicke hat
unser Wagnerjünger auch in die politische Parteibildung Deutschlands ge¬
than. „Unter Philister versteht man in Deutschland die Anhänger des alten
Systems, im Gegensatz zu den Davidsbündlern. welche die Proselyten-
macher der Zukunft sind, so genannt von einer Gesellschaft junger Studenten
und Musiker, die jenem wahren David der Musik, dem unglücklichen Robert
Schumann ihre Gründung verdankt". Das hätte Schumann ahnen sollen,
daß seine „Davidsbündlertänze" eine derartige Tragweite erlangen würden!

Doch genug des Scherzes! — Wo nimmt eine deutsche Verlagshandlung
den Muth her, solch einen dörrenden Unsinn übersetzen und drucken zu lassen
und auch noch selber Reclame dafür zu machen? Keine deutsche Zeitung
würde diesen Trivialitäten ihr Feuilleton öffnen, und eine deutsche Verlagshand¬
lung läßt dieses Zeug, welches für italienische Feuilletons vielleicht gut genug
sein mag. übersetzen, um es in Buchform herauszugeben? Wenn ein italie¬
nischer Buchhändler die Reiseberichte über Italiens Kunstschätze, die irgend
ein beliebiger deutscher Dutzendtourist an seine Freunde und Gevattern nach
Hause geschrieben, ins Italienische übersetzen lassen und seinen Landsleuten
zum Studium empfehlen wollte, es würde ganz dieselbe Geschichte sein.
Stellenweise lesen sich diese Feuilletons des Herrn Filippo Dr. Filippi factisch
wie die Ferienreisebeschreibung eines deutschen Untertertianers, und namentlich
wenn er witzig werden will, so ist es gleich, als ob man Leibweh bekommen sollte.
Es kommt aber noch ein Moment hinzu, bei welchem der Spaß von selber
aufhört. Dieser Herr Filippo Dr. Filippi ist obendrein ein enragtrter
Preußenfresser, der seinem Preußenhaß bet jeder Gelegenheit Luft macht.
„Weimar ist doch die Hauptstadt eines Großherzogthums und. so verpreußt
sie auch sein mag. durch ihre künstlerischen Erinnerungen eine der bedeu¬
tendsten von allen" — „Weimar ist ein kleiner Staat, der durch die Ver-
preußung seinen autonomen Organismus eingebüßt hat. und dem nur der
Schein einer Regierung, eines Hofes und einer Administration geblieben ist"
— ..Trotz der preußischen Invasion herrschen allerorts noch patriarchalische
Zustände" — „Erfurt ist eine der großen Festungen des Bundes, mit preußt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/526>, abgerufen am 27.09.2024.