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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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wesen, als in Amerika, wo das puritanische Wesen lange Zeit fast allenthalben
die Geister beherrschte, und Prediger der geschilderten Art. vorzüglich unter
Methodisten und Baptisten, noch heutzutage keine Seltenheit sind".

"Ich habe", sagt Hollen in der Vorrede zur englischen Ausgabe von
Ward's Schriften, "irgendwo eine Geschichte von einem strammen und muskel¬
kräftigen Grobschmied gelesen, -- Herr Dickens würde etwas vom Verfasser
derselben zu berichten wissen -- der einen Ungläubigen in den Zustand be-
friedigender Bekehrung hineinprügelte, indem er ihm die Hiebe, die er ihm
versetzte, nach dem Takte der erwecklichsten Revival-Melodien aufmaß, welche
er innehatte. Die Erzählung ist nicht übertrieben, und ich bin überzeugt,
daß die Sache sich irgendwo einmal in Amerika zugetragen hat."

Vor nicht vielen Jahren gab es in einem der Staaten Neuenglands
einen berühmten Prediger der alten puritanischen Schule, der auf der Kanzel
ähnliche drollige Einfälle vorbrachte, wie Rowland Hill bet uns. Aber ein
noch kühnerer Clown auf der Kanzel war der Pastor Lorenzo Snow. Bei
einer Gelegenheit predigte er über die Stelle, wo Paulus sagt: "Ich kann
alle Dinge thun". Der Redner hielt inne, nahm seine Brille ab, legte sie
auf die geöffnete Bibel und sagte: "Nein, Paulus, hier irrst Du Dich einmal.
Ich wette mit dir um fünf Dollars, daß du das nicht kannst, und hier setze
ich das Geld. Zu gleicher Zeit fuhr er mit der Hand in die Tasche, nahm
eine Fünf-Dollar-Note heraus, legte sie auf die Bibel, setzte seine Brille wieder,
auf und las weiter: "Durch Jesum Christum, unsern Herrn". -- "Ah, Paulus,
so war's gemeint"! rief Snow aus, indem er seine Fünf-Dollar-Note schnell
wegriß und wieder in die Tasche versenkte. "Das ist ganz was Anderes,
die Wette wird zurückgezogen."

"Die besten Geschichten, die ich jemals gehört habe", fährt Hollen fort,
waren die eines methodistischen Reisepredigers an einem Orte, der Council
Hill hieß, ein paar Meilen landeinwärts vom oberen Missisippi. Er pflegte
die Nachbarschaft zwei oder drei Mal die Woche zu Claß Meetings (Bet¬
stunden) zu versammeln; aber den stärksten Anziehungspunkt für das Volk
bildeten die drolligen Geschichtchen und "Erlebnisse", wie er sie nannte, die
er in dem ziegelsteinernen Kramladen über der Straße drüben zu erzählen
pflegte, der immer gedrängt voll Leute war. wenn Prediger Williams sich do?:i
aufhielt. Er war unter den religiös Gesinnten ein sehr angesehener Mann,
der mit gewaltiger Inbrunst "Seelenerweckungen" in diesen Gegenden her¬
vorrief. Bei einer Gelegenheit waren im ganzen Orte die Geschäfte geschlossen,
die gesammte Gemeinde trug ihre besten Kleider, und Alle überließen sich
dem "Wirken des heiligen Geistes", ausgenommen drei hartnäckige alte Schenk¬
wirthe am andern Ende des Städtchens, für die im Meetinghause Tag und
Nacht laut gebetet wurde. Prediger Williams' Hauptkunst im "Heranholen"


wesen, als in Amerika, wo das puritanische Wesen lange Zeit fast allenthalben
die Geister beherrschte, und Prediger der geschilderten Art. vorzüglich unter
Methodisten und Baptisten, noch heutzutage keine Seltenheit sind".

„Ich habe", sagt Hollen in der Vorrede zur englischen Ausgabe von
Ward's Schriften, „irgendwo eine Geschichte von einem strammen und muskel¬
kräftigen Grobschmied gelesen, — Herr Dickens würde etwas vom Verfasser
derselben zu berichten wissen — der einen Ungläubigen in den Zustand be-
friedigender Bekehrung hineinprügelte, indem er ihm die Hiebe, die er ihm
versetzte, nach dem Takte der erwecklichsten Revival-Melodien aufmaß, welche
er innehatte. Die Erzählung ist nicht übertrieben, und ich bin überzeugt,
daß die Sache sich irgendwo einmal in Amerika zugetragen hat."

Vor nicht vielen Jahren gab es in einem der Staaten Neuenglands
einen berühmten Prediger der alten puritanischen Schule, der auf der Kanzel
ähnliche drollige Einfälle vorbrachte, wie Rowland Hill bet uns. Aber ein
noch kühnerer Clown auf der Kanzel war der Pastor Lorenzo Snow. Bei
einer Gelegenheit predigte er über die Stelle, wo Paulus sagt: „Ich kann
alle Dinge thun". Der Redner hielt inne, nahm seine Brille ab, legte sie
auf die geöffnete Bibel und sagte: „Nein, Paulus, hier irrst Du Dich einmal.
Ich wette mit dir um fünf Dollars, daß du das nicht kannst, und hier setze
ich das Geld. Zu gleicher Zeit fuhr er mit der Hand in die Tasche, nahm
eine Fünf-Dollar-Note heraus, legte sie auf die Bibel, setzte seine Brille wieder,
auf und las weiter: „Durch Jesum Christum, unsern Herrn". — „Ah, Paulus,
so war's gemeint"! rief Snow aus, indem er seine Fünf-Dollar-Note schnell
wegriß und wieder in die Tasche versenkte. „Das ist ganz was Anderes,
die Wette wird zurückgezogen."

„Die besten Geschichten, die ich jemals gehört habe", fährt Hollen fort,
waren die eines methodistischen Reisepredigers an einem Orte, der Council
Hill hieß, ein paar Meilen landeinwärts vom oberen Missisippi. Er pflegte
die Nachbarschaft zwei oder drei Mal die Woche zu Claß Meetings (Bet¬
stunden) zu versammeln; aber den stärksten Anziehungspunkt für das Volk
bildeten die drolligen Geschichtchen und „Erlebnisse", wie er sie nannte, die
er in dem ziegelsteinernen Kramladen über der Straße drüben zu erzählen
pflegte, der immer gedrängt voll Leute war. wenn Prediger Williams sich do?:i
aufhielt. Er war unter den religiös Gesinnten ein sehr angesehener Mann,
der mit gewaltiger Inbrunst „Seelenerweckungen" in diesen Gegenden her¬
vorrief. Bei einer Gelegenheit waren im ganzen Orte die Geschäfte geschlossen,
die gesammte Gemeinde trug ihre besten Kleider, und Alle überließen sich
dem „Wirken des heiligen Geistes", ausgenommen drei hartnäckige alte Schenk¬
wirthe am andern Ende des Städtchens, für die im Meetinghause Tag und
Nacht laut gebetet wurde. Prediger Williams' Hauptkunst im „Heranholen"


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[0514] wesen, als in Amerika, wo das puritanische Wesen lange Zeit fast allenthalben die Geister beherrschte, und Prediger der geschilderten Art. vorzüglich unter Methodisten und Baptisten, noch heutzutage keine Seltenheit sind". „Ich habe", sagt Hollen in der Vorrede zur englischen Ausgabe von Ward's Schriften, „irgendwo eine Geschichte von einem strammen und muskel¬ kräftigen Grobschmied gelesen, — Herr Dickens würde etwas vom Verfasser derselben zu berichten wissen — der einen Ungläubigen in den Zustand be- friedigender Bekehrung hineinprügelte, indem er ihm die Hiebe, die er ihm versetzte, nach dem Takte der erwecklichsten Revival-Melodien aufmaß, welche er innehatte. Die Erzählung ist nicht übertrieben, und ich bin überzeugt, daß die Sache sich irgendwo einmal in Amerika zugetragen hat." Vor nicht vielen Jahren gab es in einem der Staaten Neuenglands einen berühmten Prediger der alten puritanischen Schule, der auf der Kanzel ähnliche drollige Einfälle vorbrachte, wie Rowland Hill bet uns. Aber ein noch kühnerer Clown auf der Kanzel war der Pastor Lorenzo Snow. Bei einer Gelegenheit predigte er über die Stelle, wo Paulus sagt: „Ich kann alle Dinge thun". Der Redner hielt inne, nahm seine Brille ab, legte sie auf die geöffnete Bibel und sagte: „Nein, Paulus, hier irrst Du Dich einmal. Ich wette mit dir um fünf Dollars, daß du das nicht kannst, und hier setze ich das Geld. Zu gleicher Zeit fuhr er mit der Hand in die Tasche, nahm eine Fünf-Dollar-Note heraus, legte sie auf die Bibel, setzte seine Brille wieder, auf und las weiter: „Durch Jesum Christum, unsern Herrn". — „Ah, Paulus, so war's gemeint"! rief Snow aus, indem er seine Fünf-Dollar-Note schnell wegriß und wieder in die Tasche versenkte. „Das ist ganz was Anderes, die Wette wird zurückgezogen." „Die besten Geschichten, die ich jemals gehört habe", fährt Hollen fort, waren die eines methodistischen Reisepredigers an einem Orte, der Council Hill hieß, ein paar Meilen landeinwärts vom oberen Missisippi. Er pflegte die Nachbarschaft zwei oder drei Mal die Woche zu Claß Meetings (Bet¬ stunden) zu versammeln; aber den stärksten Anziehungspunkt für das Volk bildeten die drolligen Geschichtchen und „Erlebnisse", wie er sie nannte, die er in dem ziegelsteinernen Kramladen über der Straße drüben zu erzählen pflegte, der immer gedrängt voll Leute war. wenn Prediger Williams sich do?:i aufhielt. Er war unter den religiös Gesinnten ein sehr angesehener Mann, der mit gewaltiger Inbrunst „Seelenerweckungen" in diesen Gegenden her¬ vorrief. Bei einer Gelegenheit waren im ganzen Orte die Geschäfte geschlossen, die gesammte Gemeinde trug ihre besten Kleider, und Alle überließen sich dem „Wirken des heiligen Geistes", ausgenommen drei hartnäckige alte Schenk¬ wirthe am andern Ende des Städtchens, für die im Meetinghause Tag und Nacht laut gebetet wurde. Prediger Williams' Hauptkunst im „Heranholen"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/514>, abgerufen am 27.09.2024.