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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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den vierziger Jahren war es nach White allgemein bekannt, daß mehrere
Frauen sich durch Erstickung von Lebenskeimen vor oder während der Geburt
ihren Lebensunterhalt erwarben, und es ist seitdem schwerlich viel anders
geworden. Obgleich dieses schändliche Treiben bis in die neueste Zeit fort¬
währte, so wurde doch eine in der Hoffnung befindliche Sklavin, wenn der
Sultan erst einen Sohn hatte, mit großer Sorgfalt behandelt, da man es
für wichtig hielt, daß zwei muthmaßliche Thronfolger da waren, damit beim
Tode des älteren Bruders der zweite ihm folgen, und so eine Regentschaft ver¬
mieden werden konnte. Wurde daher eine Sklavin Mutter von einem zweiten
oder dritten Sohn, so erhob man sie zum Rang einer Kabir, und waren
deren sieben vorhanden, so wurde eine entlassen und pensionirt. Das von
Suleiman dem Großen gegebene Gesetz der Einsperrung und Ermordung
nachgeborener Prinzen ist gemildert worden, hat aber noch vor nicht langer
Zeit Opfer gefordert. Seinen Ursprung hatte es in den Ränken der Mütter
seiner Söhne, der Chasseki und der Tschurrem, welche die Europäer Rorolane
nannten, Ränken, durch welche drei Söhne der ersteren das Leben verloren.
Vom Gründer der Dynastie bis auf Achmed den Ersten folgten die vierzehn
ersten Sultane ihren Vätern auf dem Throne. Nach Achmed's Tode 1617
wurde, da dessen Söhne unmündig waren, die Thronfolgeordnung abgeändert
und Achmed's Bruder Mustapha zum Sultan ausgerufen. Das Gesey. über¬
flüssig scheinende männliche Nachkommenschaft umzubringen, wurde nichts¬
destoweniger auch jetzt noch in Kraft erhalten, da man keine Nebenbuhler
neben dem jedesmaligen Sultan sehen wollte. Mit Ausnahme Muhameds
des Vierten und Abdul Medschid's ist der Thron in Ermangelung von
Seitenverwandten männlichen Geschlechts bis auf Abdul Aziz und mit
Einschluß desselben auf den ältesten Angehörigen der Dynastie Osman's über¬
gegangen, mochte dieser nun ein Bruder oder ein Vetter sein. Das schreck¬
lichste Beispiel der^furchtbaren Ausdehnung, in welcher einige Sultane dieses Gesetz
handhabten, sieht man bei der Aja Sofia. Im äußern südlichen Hofe dieser
Moschee sind drei große Mausoleen. Das mittlere davon wurde von Murad
dem Dritten erbaut, der bei seinem 1594 erfolgten Tode 18 Söhne hinter¬
ließ. Kaum hatte der älteste desselben, Muhamed der Dritte, den Thron
bestiegen, als er alle seine Brüder erdrosseln ließ. Ihre mit Shawls bedeck¬
ten Bahren mit ihren Turbanen stehen zu beiden Seiten der ungeheuren
Bahre ihres Vaters.

Infolge dieses Gesetzes war es bis vor nicht langer Zeit und ist es wohl
auch noch heute eine bedenkliche Ehre, die Tochter oder Schwester eines Sul¬
tans zu heirathen; denn alle ihre männlichen Kinder wurden getödtet. So
verlor u. A. Mihr Sultan", die Tochter Mahmud's des Zweiten und Schwester
Abdul Medschid's, welche mit Said Pascha vermählt war, das Leben. Da


den vierziger Jahren war es nach White allgemein bekannt, daß mehrere
Frauen sich durch Erstickung von Lebenskeimen vor oder während der Geburt
ihren Lebensunterhalt erwarben, und es ist seitdem schwerlich viel anders
geworden. Obgleich dieses schändliche Treiben bis in die neueste Zeit fort¬
währte, so wurde doch eine in der Hoffnung befindliche Sklavin, wenn der
Sultan erst einen Sohn hatte, mit großer Sorgfalt behandelt, da man es
für wichtig hielt, daß zwei muthmaßliche Thronfolger da waren, damit beim
Tode des älteren Bruders der zweite ihm folgen, und so eine Regentschaft ver¬
mieden werden konnte. Wurde daher eine Sklavin Mutter von einem zweiten
oder dritten Sohn, so erhob man sie zum Rang einer Kabir, und waren
deren sieben vorhanden, so wurde eine entlassen und pensionirt. Das von
Suleiman dem Großen gegebene Gesetz der Einsperrung und Ermordung
nachgeborener Prinzen ist gemildert worden, hat aber noch vor nicht langer
Zeit Opfer gefordert. Seinen Ursprung hatte es in den Ränken der Mütter
seiner Söhne, der Chasseki und der Tschurrem, welche die Europäer Rorolane
nannten, Ränken, durch welche drei Söhne der ersteren das Leben verloren.
Vom Gründer der Dynastie bis auf Achmed den Ersten folgten die vierzehn
ersten Sultane ihren Vätern auf dem Throne. Nach Achmed's Tode 1617
wurde, da dessen Söhne unmündig waren, die Thronfolgeordnung abgeändert
und Achmed's Bruder Mustapha zum Sultan ausgerufen. Das Gesey. über¬
flüssig scheinende männliche Nachkommenschaft umzubringen, wurde nichts¬
destoweniger auch jetzt noch in Kraft erhalten, da man keine Nebenbuhler
neben dem jedesmaligen Sultan sehen wollte. Mit Ausnahme Muhameds
des Vierten und Abdul Medschid's ist der Thron in Ermangelung von
Seitenverwandten männlichen Geschlechts bis auf Abdul Aziz und mit
Einschluß desselben auf den ältesten Angehörigen der Dynastie Osman's über¬
gegangen, mochte dieser nun ein Bruder oder ein Vetter sein. Das schreck¬
lichste Beispiel der^furchtbaren Ausdehnung, in welcher einige Sultane dieses Gesetz
handhabten, sieht man bei der Aja Sofia. Im äußern südlichen Hofe dieser
Moschee sind drei große Mausoleen. Das mittlere davon wurde von Murad
dem Dritten erbaut, der bei seinem 1594 erfolgten Tode 18 Söhne hinter¬
ließ. Kaum hatte der älteste desselben, Muhamed der Dritte, den Thron
bestiegen, als er alle seine Brüder erdrosseln ließ. Ihre mit Shawls bedeck¬
ten Bahren mit ihren Turbanen stehen zu beiden Seiten der ungeheuren
Bahre ihres Vaters.

Infolge dieses Gesetzes war es bis vor nicht langer Zeit und ist es wohl
auch noch heute eine bedenkliche Ehre, die Tochter oder Schwester eines Sul¬
tans zu heirathen; denn alle ihre männlichen Kinder wurden getödtet. So
verlor u. A. Mihr Sultan«, die Tochter Mahmud's des Zweiten und Schwester
Abdul Medschid's, welche mit Said Pascha vermählt war, das Leben. Da


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[0434] den vierziger Jahren war es nach White allgemein bekannt, daß mehrere Frauen sich durch Erstickung von Lebenskeimen vor oder während der Geburt ihren Lebensunterhalt erwarben, und es ist seitdem schwerlich viel anders geworden. Obgleich dieses schändliche Treiben bis in die neueste Zeit fort¬ währte, so wurde doch eine in der Hoffnung befindliche Sklavin, wenn der Sultan erst einen Sohn hatte, mit großer Sorgfalt behandelt, da man es für wichtig hielt, daß zwei muthmaßliche Thronfolger da waren, damit beim Tode des älteren Bruders der zweite ihm folgen, und so eine Regentschaft ver¬ mieden werden konnte. Wurde daher eine Sklavin Mutter von einem zweiten oder dritten Sohn, so erhob man sie zum Rang einer Kabir, und waren deren sieben vorhanden, so wurde eine entlassen und pensionirt. Das von Suleiman dem Großen gegebene Gesetz der Einsperrung und Ermordung nachgeborener Prinzen ist gemildert worden, hat aber noch vor nicht langer Zeit Opfer gefordert. Seinen Ursprung hatte es in den Ränken der Mütter seiner Söhne, der Chasseki und der Tschurrem, welche die Europäer Rorolane nannten, Ränken, durch welche drei Söhne der ersteren das Leben verloren. Vom Gründer der Dynastie bis auf Achmed den Ersten folgten die vierzehn ersten Sultane ihren Vätern auf dem Throne. Nach Achmed's Tode 1617 wurde, da dessen Söhne unmündig waren, die Thronfolgeordnung abgeändert und Achmed's Bruder Mustapha zum Sultan ausgerufen. Das Gesey. über¬ flüssig scheinende männliche Nachkommenschaft umzubringen, wurde nichts¬ destoweniger auch jetzt noch in Kraft erhalten, da man keine Nebenbuhler neben dem jedesmaligen Sultan sehen wollte. Mit Ausnahme Muhameds des Vierten und Abdul Medschid's ist der Thron in Ermangelung von Seitenverwandten männlichen Geschlechts bis auf Abdul Aziz und mit Einschluß desselben auf den ältesten Angehörigen der Dynastie Osman's über¬ gegangen, mochte dieser nun ein Bruder oder ein Vetter sein. Das schreck¬ lichste Beispiel der^furchtbaren Ausdehnung, in welcher einige Sultane dieses Gesetz handhabten, sieht man bei der Aja Sofia. Im äußern südlichen Hofe dieser Moschee sind drei große Mausoleen. Das mittlere davon wurde von Murad dem Dritten erbaut, der bei seinem 1594 erfolgten Tode 18 Söhne hinter¬ ließ. Kaum hatte der älteste desselben, Muhamed der Dritte, den Thron bestiegen, als er alle seine Brüder erdrosseln ließ. Ihre mit Shawls bedeck¬ ten Bahren mit ihren Turbanen stehen zu beiden Seiten der ungeheuren Bahre ihres Vaters. Infolge dieses Gesetzes war es bis vor nicht langer Zeit und ist es wohl auch noch heute eine bedenkliche Ehre, die Tochter oder Schwester eines Sul¬ tans zu heirathen; denn alle ihre männlichen Kinder wurden getödtet. So verlor u. A. Mihr Sultan«, die Tochter Mahmud's des Zweiten und Schwester Abdul Medschid's, welche mit Said Pascha vermählt war, das Leben. Da

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/434>, abgerufen am 27.09.2024.