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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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dient; er hat den Commentar zu jedem Capitel an den Schluß desselben ver¬
wiesen und durch Zeilenzählung des Textes die Zurückverweisung ermöglicht.
Zu diesem Verfahren war er allerdings schon genöthigt durch den Umfang
seines Commentars. Denn zum geringsten Theile besteht derselbe aus
bloßen Notizen, dergleichen die anderen Herausgeber hinzugefügt; in der
Regel sind seine Anmerkungen breit ausgeführte Excurse. In umfassendster
Weise und mit größter Sachkenntniß hat Blümner die gesammte einschlägige
Literatur zur Benutzung herbeigezogen, diejenige, welche Lessing selbst, ausge¬
sprochen oder stillschweigend, benutzt hat. diejenige, worin über die ursprüng¬
liche Anlage des "Laokoon", über die Veränderung mancher Lessing'schen An¬
sichten, über die Angriffe, die er bei Lebzeiten und später erfahren, Belehrung
zu holen ist -- von Herder's ..Kritischem Wäldchen" an bis herab zu Mos-
ler's jüngst erschienenen "Kritischen Kunststudien", dazu die Hauptwerke der
neueren Aesthetik und eine unabsehbare Reihe archäologischer Schriften. Ueber¬
all hat er gewissenhaft Lessing's Ansichten gegen die gegenüberstehenden ab¬
gewogen und bald den Gegnern Recht gegeben, bald Lessing in Schutz ge¬
nommen. Und ich wüßte kaum ein Beispiel, wo man seinem vorsichtig er¬
wogenen und bescheiden ausgesprochenen Urtheil nicht beipflichten könnte. Einzelne
dieser Excurse sind wahre Fundgruben, in denen die ganze Geschichte der betref¬
fenden Frage von ihren Anfängen bis zu ihrem heutigen Stande verfolgt ist.

Wenn ich diesem kurzen Lobe eine längere Reihe von Wünschen und
Ausstellungen entgegensetze, so geschieht es natürlich nicht, um das eben ge¬
spendete Lob wieder zu schmälern, sondern um dem Verfasser zu beweisen, mit
welchem Interesse ich sein Buch gelesen, und um ihm diese Wünsche für eine
zweite Auflage des Werkes, die nicht ausbleiben wird, zur Erwägung zu
geben. Was den Commentar im Allgemeinen betrifft, so meine ich, daß ge¬
rade die reichsten und ausgeführtesten Excurse desselben bisweilen noch eine
etwas größere, namentlich auch stilistische Durcharbeitung vertrügen. Manches
ist sehr schätzbares Material, könnte aber knapper, klarer und geschmackvoller
dargestellt sein; an Düntzer'sches Notendeutsch dürfte nichts auch nur entfernt
erinnern. Es scheint, als ob die Drucklegung des Werkes etwas rasch hätte
von Statten gehen müssen und deshalb nicht überall die letzte Feile hätte angelegt
werden können. Ferner könnte, wenn auch die Vorsicht und Bescheidenheit,
in welche Blümner seine Urtheile kleidet. Lessing gegenüber gewiß am Platze
ist, doch die gar zu häufige Potentiale Fassung derselben, die sich über ein
"vielleicht", "wohl", "doch wohl", "denn doch wohl" nicht hinausgetraut, einer
apodiktischeren Form Platz machen, wo das Richtige gar zu deutlich auf der
Hand liegt.

Im Einzelnen kann man natürlich vielfach verschiedener Meinung da¬
rüber sein, ob eine Erläuterung oder Berichtigung des Lessing'schen Textes


dient; er hat den Commentar zu jedem Capitel an den Schluß desselben ver¬
wiesen und durch Zeilenzählung des Textes die Zurückverweisung ermöglicht.
Zu diesem Verfahren war er allerdings schon genöthigt durch den Umfang
seines Commentars. Denn zum geringsten Theile besteht derselbe aus
bloßen Notizen, dergleichen die anderen Herausgeber hinzugefügt; in der
Regel sind seine Anmerkungen breit ausgeführte Excurse. In umfassendster
Weise und mit größter Sachkenntniß hat Blümner die gesammte einschlägige
Literatur zur Benutzung herbeigezogen, diejenige, welche Lessing selbst, ausge¬
sprochen oder stillschweigend, benutzt hat. diejenige, worin über die ursprüng¬
liche Anlage des „Laokoon", über die Veränderung mancher Lessing'schen An¬
sichten, über die Angriffe, die er bei Lebzeiten und später erfahren, Belehrung
zu holen ist — von Herder's ..Kritischem Wäldchen" an bis herab zu Mos-
ler's jüngst erschienenen „Kritischen Kunststudien", dazu die Hauptwerke der
neueren Aesthetik und eine unabsehbare Reihe archäologischer Schriften. Ueber¬
all hat er gewissenhaft Lessing's Ansichten gegen die gegenüberstehenden ab¬
gewogen und bald den Gegnern Recht gegeben, bald Lessing in Schutz ge¬
nommen. Und ich wüßte kaum ein Beispiel, wo man seinem vorsichtig er¬
wogenen und bescheiden ausgesprochenen Urtheil nicht beipflichten könnte. Einzelne
dieser Excurse sind wahre Fundgruben, in denen die ganze Geschichte der betref¬
fenden Frage von ihren Anfängen bis zu ihrem heutigen Stande verfolgt ist.

Wenn ich diesem kurzen Lobe eine längere Reihe von Wünschen und
Ausstellungen entgegensetze, so geschieht es natürlich nicht, um das eben ge¬
spendete Lob wieder zu schmälern, sondern um dem Verfasser zu beweisen, mit
welchem Interesse ich sein Buch gelesen, und um ihm diese Wünsche für eine
zweite Auflage des Werkes, die nicht ausbleiben wird, zur Erwägung zu
geben. Was den Commentar im Allgemeinen betrifft, so meine ich, daß ge¬
rade die reichsten und ausgeführtesten Excurse desselben bisweilen noch eine
etwas größere, namentlich auch stilistische Durcharbeitung vertrügen. Manches
ist sehr schätzbares Material, könnte aber knapper, klarer und geschmackvoller
dargestellt sein; an Düntzer'sches Notendeutsch dürfte nichts auch nur entfernt
erinnern. Es scheint, als ob die Drucklegung des Werkes etwas rasch hätte
von Statten gehen müssen und deshalb nicht überall die letzte Feile hätte angelegt
werden können. Ferner könnte, wenn auch die Vorsicht und Bescheidenheit,
in welche Blümner seine Urtheile kleidet. Lessing gegenüber gewiß am Platze
ist, doch die gar zu häufige Potentiale Fassung derselben, die sich über ein
„vielleicht", „wohl", „doch wohl", „denn doch wohl" nicht hinausgetraut, einer
apodiktischeren Form Platz machen, wo das Richtige gar zu deutlich auf der
Hand liegt.

Im Einzelnen kann man natürlich vielfach verschiedener Meinung da¬
rüber sein, ob eine Erläuterung oder Berichtigung des Lessing'schen Textes


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[0421] dient; er hat den Commentar zu jedem Capitel an den Schluß desselben ver¬ wiesen und durch Zeilenzählung des Textes die Zurückverweisung ermöglicht. Zu diesem Verfahren war er allerdings schon genöthigt durch den Umfang seines Commentars. Denn zum geringsten Theile besteht derselbe aus bloßen Notizen, dergleichen die anderen Herausgeber hinzugefügt; in der Regel sind seine Anmerkungen breit ausgeführte Excurse. In umfassendster Weise und mit größter Sachkenntniß hat Blümner die gesammte einschlägige Literatur zur Benutzung herbeigezogen, diejenige, welche Lessing selbst, ausge¬ sprochen oder stillschweigend, benutzt hat. diejenige, worin über die ursprüng¬ liche Anlage des „Laokoon", über die Veränderung mancher Lessing'schen An¬ sichten, über die Angriffe, die er bei Lebzeiten und später erfahren, Belehrung zu holen ist — von Herder's ..Kritischem Wäldchen" an bis herab zu Mos- ler's jüngst erschienenen „Kritischen Kunststudien", dazu die Hauptwerke der neueren Aesthetik und eine unabsehbare Reihe archäologischer Schriften. Ueber¬ all hat er gewissenhaft Lessing's Ansichten gegen die gegenüberstehenden ab¬ gewogen und bald den Gegnern Recht gegeben, bald Lessing in Schutz ge¬ nommen. Und ich wüßte kaum ein Beispiel, wo man seinem vorsichtig er¬ wogenen und bescheiden ausgesprochenen Urtheil nicht beipflichten könnte. Einzelne dieser Excurse sind wahre Fundgruben, in denen die ganze Geschichte der betref¬ fenden Frage von ihren Anfängen bis zu ihrem heutigen Stande verfolgt ist. Wenn ich diesem kurzen Lobe eine längere Reihe von Wünschen und Ausstellungen entgegensetze, so geschieht es natürlich nicht, um das eben ge¬ spendete Lob wieder zu schmälern, sondern um dem Verfasser zu beweisen, mit welchem Interesse ich sein Buch gelesen, und um ihm diese Wünsche für eine zweite Auflage des Werkes, die nicht ausbleiben wird, zur Erwägung zu geben. Was den Commentar im Allgemeinen betrifft, so meine ich, daß ge¬ rade die reichsten und ausgeführtesten Excurse desselben bisweilen noch eine etwas größere, namentlich auch stilistische Durcharbeitung vertrügen. Manches ist sehr schätzbares Material, könnte aber knapper, klarer und geschmackvoller dargestellt sein; an Düntzer'sches Notendeutsch dürfte nichts auch nur entfernt erinnern. Es scheint, als ob die Drucklegung des Werkes etwas rasch hätte von Statten gehen müssen und deshalb nicht überall die letzte Feile hätte angelegt werden können. Ferner könnte, wenn auch die Vorsicht und Bescheidenheit, in welche Blümner seine Urtheile kleidet. Lessing gegenüber gewiß am Platze ist, doch die gar zu häufige Potentiale Fassung derselben, die sich über ein „vielleicht", „wohl", „doch wohl", „denn doch wohl" nicht hinausgetraut, einer apodiktischeren Form Platz machen, wo das Richtige gar zu deutlich auf der Hand liegt. Im Einzelnen kann man natürlich vielfach verschiedener Meinung da¬ rüber sein, ob eine Erläuterung oder Berichtigung des Lessing'schen Textes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/421>, abgerufen am 27.09.2024.