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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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frohen Empfindung, welcher Gutzkow einmal Ausdruck verleiht, wenn er
sagt: "Von einem Irrthum erlöst zu sein, gewährt größere Freude, als eine
Wahrheit gefunden zu haben".

Größere pädagogische Bedeutung aber noch hat Lessing's "Laokoon" wegen
der Methode seiner Untersuchung und wegen seiner Darstellungsweise. Wie
er inhaltlich eines der belehrendsten, so ist er formal eines der anregendsten
Bücher, und es giebt keine Lectüre, die eine bessere Zucht des Geistes üben,
unerbittlicher in den Köpfen Licht und Ordnung schaffen könnte. Mit Recht
hat man das Buch das große erste Beispiel analytischer Untersuchung in der
deutschen Wissenschaft genannt. "Wir sehen", sagt Herder, "Lessing's Werk
werdend, wie den Schild des Achill bei Homer. Er scheint uns die Veran¬
lassung jeder Reflexion gleichsam vor Augen zu führen, stückweise zu zerlegen,
zusammenzusetzen. Nun springt die Triebfeder, das Rad läuft, ein Gedanke,
ein Schluß giebt den andern, der Folgesatz kommt näher, d a ist das Product
der Betrachtungen." Und dazu diese gedrungene, schneidige und dramatisch
lebendige sprachliche Darstellung! "Wir hören in Lessing's Stil", schreibt
Vilmar, "ein geistreiches, belebtes Gespräch, in welchem gleichsam ein treffender
Gedanke auf den andern wartet, einer den andern hervorlockt, einer von dem
andern abgelöst, durch den andern berichtigt, gefördert, entwickelt und vollendet
wird; Gedanke folgt auf Gedanke, Zug um Zug, im heitersten Spiele und
dennoch mit unbegreiflicher, fast zauberhafter Gewalt auf uns eindringend, uns
mit fortreißend, beredend, überzeugend, überwältigend: wir können uns der
Theilnahme an dem Gespräche nicht entziehen, wir glauben selbst mitzureden,
und zwar mit solcher Lebhaftigkeit, Klarheit, Bestimmtheit mitzureden, wie
wir sonst noch niemals gesprochen haben; Einrede und Widerlegung, Zuge¬
ständnis; und Beschränkung. Frage und Antwort, Zweifel und Erläuterung
folgen auf einander in ununterbrochener Abwechselung, bis alle Seiten des
Gegenstandes nach einander herausgekehrt und besprochen sind, ohne daß doch
bei einer einzigen nur ein Augenblick länger verweilt würde, als zur voll¬
ständigen Darlegung derselben nöthig ist."

Mit Recht ist denn auch der "Laokoon" überall in den Kanon derjenigen
Schriften aufgenommen, die auf der obersten Stufe unserer Gelehrtenschulen
im deutschen Unterrichte gelesen werden sollen. Vielleicht würden Vorlesungen
über ihn mit noch größerem Rechte unter die propädeutischen Vorträge auf¬
zunehmen sein, die auf der Universität den Studirenden aller Facultäten in
den ersten Semestern ihrer akademischen Laufbahn geboten werden. Aber
Blümner ist meines Wissens der erste Archäolog, der es gewagt hat, Vor¬
lesungen über den "Laokoon" an der Universität zu halten, in Breslau und
in Königsberg; seine Ausgabe des Buches ist aus solchen Vorlesungen ent-


frohen Empfindung, welcher Gutzkow einmal Ausdruck verleiht, wenn er
sagt: „Von einem Irrthum erlöst zu sein, gewährt größere Freude, als eine
Wahrheit gefunden zu haben".

Größere pädagogische Bedeutung aber noch hat Lessing's „Laokoon" wegen
der Methode seiner Untersuchung und wegen seiner Darstellungsweise. Wie
er inhaltlich eines der belehrendsten, so ist er formal eines der anregendsten
Bücher, und es giebt keine Lectüre, die eine bessere Zucht des Geistes üben,
unerbittlicher in den Köpfen Licht und Ordnung schaffen könnte. Mit Recht
hat man das Buch das große erste Beispiel analytischer Untersuchung in der
deutschen Wissenschaft genannt. „Wir sehen", sagt Herder, „Lessing's Werk
werdend, wie den Schild des Achill bei Homer. Er scheint uns die Veran¬
lassung jeder Reflexion gleichsam vor Augen zu führen, stückweise zu zerlegen,
zusammenzusetzen. Nun springt die Triebfeder, das Rad läuft, ein Gedanke,
ein Schluß giebt den andern, der Folgesatz kommt näher, d a ist das Product
der Betrachtungen." Und dazu diese gedrungene, schneidige und dramatisch
lebendige sprachliche Darstellung! „Wir hören in Lessing's Stil", schreibt
Vilmar, „ein geistreiches, belebtes Gespräch, in welchem gleichsam ein treffender
Gedanke auf den andern wartet, einer den andern hervorlockt, einer von dem
andern abgelöst, durch den andern berichtigt, gefördert, entwickelt und vollendet
wird; Gedanke folgt auf Gedanke, Zug um Zug, im heitersten Spiele und
dennoch mit unbegreiflicher, fast zauberhafter Gewalt auf uns eindringend, uns
mit fortreißend, beredend, überzeugend, überwältigend: wir können uns der
Theilnahme an dem Gespräche nicht entziehen, wir glauben selbst mitzureden,
und zwar mit solcher Lebhaftigkeit, Klarheit, Bestimmtheit mitzureden, wie
wir sonst noch niemals gesprochen haben; Einrede und Widerlegung, Zuge¬
ständnis; und Beschränkung. Frage und Antwort, Zweifel und Erläuterung
folgen auf einander in ununterbrochener Abwechselung, bis alle Seiten des
Gegenstandes nach einander herausgekehrt und besprochen sind, ohne daß doch
bei einer einzigen nur ein Augenblick länger verweilt würde, als zur voll¬
ständigen Darlegung derselben nöthig ist."

Mit Recht ist denn auch der „Laokoon" überall in den Kanon derjenigen
Schriften aufgenommen, die auf der obersten Stufe unserer Gelehrtenschulen
im deutschen Unterrichte gelesen werden sollen. Vielleicht würden Vorlesungen
über ihn mit noch größerem Rechte unter die propädeutischen Vorträge auf¬
zunehmen sein, die auf der Universität den Studirenden aller Facultäten in
den ersten Semestern ihrer akademischen Laufbahn geboten werden. Aber
Blümner ist meines Wissens der erste Archäolog, der es gewagt hat, Vor¬
lesungen über den „Laokoon" an der Universität zu halten, in Breslau und
in Königsberg; seine Ausgabe des Buches ist aus solchen Vorlesungen ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/415>, abgerufen am 20.10.2024.