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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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ihm kein Mensch mehr liest? Wäre es nicht genügend, wenn man das
Bleibende darin in Kürze aufforderte und an passender Stelle mittheilte?

Nein, und abermals nein. Trotz allem, was man gegen die Schrift
heute sagen kann, ist kaum eine lehrreichere und bildendere Lectüre denkbar,
als dieser "veraltete" Laokoon. Er ist und bleibt ein Buch von eminenter
pädagogischer Bedeutung. Einmal in der That seines Inhalts wegen, so
viel davon auch heute der Berichtigung bedarf. Lessing selbst vergleicht sich in
seiner Schrift mit einem Spaziergänger, und wirklich wie ein schöner Spaziergang
aus einem Gebiete der Wissenschaft in's andere muthet das Buch einen an.
Freundlich nimmt er uns mit auf den Weg und führt uns von einem lohnen¬
den Aussichtspunkte zum andern, bald auf bequemen, bald auf schwierigeren
Pfaden, bald mehr, bald weniger weit von der eigentlichen Hauptstraße sich
entfernend, aber doch immer zu rechter Zeit darein zurücklenkend. Welche
Fülle von Gelehrsamkeit breitet er vermöge seiner reichen Belesenheit vor uns
aus! Bald sind es kunsthistorische, bald kunstmythologische Fragen, die uns
beschäftigen, bald haben wir Veranlassung, um Thatsachen der griechischen
oder römischen, bald um solche der deutschen oder englischen, französischen
oder italienischen Literaturgeschichte uns zu kümmern, und doch ist alles dieses
nur Mittel zum Zweck, alles ist, näher oder ferner, bezogen auf die wich¬
tigen ästhetischen Untersuchungen, die den Kern der Schrift ausmachen. Die
Gefahr, daß diese Mannichfaltigkeit eher zerstreuend, als belehrend wirken, daß
das stückweise aus den verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten herangezogene
rasch wieder verloren gehe, ist allerdings vorhanden; aber sie wird abge¬
schwächt eben durch die coneentrirende Macht der Untersuchung selbst, und
sie kann beinahe ganz beseitigt werden, wenn nur der Lesende keiner auf¬
tauchenden Frage ausweicht, jede zum Austrag zu bringen sich ernstlich bemüht.
Wer drüber hinfahren will, der hat von keinem Buche Gewinn. Die andere
Gefahr freilich, daß man viel außer Curs gesetzte Ansichten für baare Münze
nehme, kann nur an der Hand eines guten Interpreten vermieden werden,
wenn man nicht selber fähig ist, dieser Interpret zu sein. Ein solcher aber
wird verfahren müssen, wie der Anwalt in seiner "Einlassung" auf eine Klage¬
schrift, sein Commentar wird zwischen einem fortwährenden eoneeävnäo und
nvMvdl) abwechseln müssen, und häusiger noch wird das nvganäo seine Auf¬
gabe sein, er wird ein unausgesetztes Correctiv zu Lessing's Darstellung bil¬
den müssen. Thut er dies aber, dann wird auch das Schiefe und Veraltete
für den Leser genau so lehrreich werden, wie das Nichtige und Bleibende,
vielleicht noch lehrreicher, denn es läßt ihn zugleich auf den verschiedensten
wissenschaftlichen Gebieten einen Einblick thun in die Fortschritte der Wissen¬
schaft, es bringt ihm zum Bewußtsein, daß die wissenschaftliche Forschung
in stetem Flusse ist, und es giebt ihm wohl auch eine Ahnung von jener


ihm kein Mensch mehr liest? Wäre es nicht genügend, wenn man das
Bleibende darin in Kürze aufforderte und an passender Stelle mittheilte?

Nein, und abermals nein. Trotz allem, was man gegen die Schrift
heute sagen kann, ist kaum eine lehrreichere und bildendere Lectüre denkbar,
als dieser „veraltete" Laokoon. Er ist und bleibt ein Buch von eminenter
pädagogischer Bedeutung. Einmal in der That seines Inhalts wegen, so
viel davon auch heute der Berichtigung bedarf. Lessing selbst vergleicht sich in
seiner Schrift mit einem Spaziergänger, und wirklich wie ein schöner Spaziergang
aus einem Gebiete der Wissenschaft in's andere muthet das Buch einen an.
Freundlich nimmt er uns mit auf den Weg und führt uns von einem lohnen¬
den Aussichtspunkte zum andern, bald auf bequemen, bald auf schwierigeren
Pfaden, bald mehr, bald weniger weit von der eigentlichen Hauptstraße sich
entfernend, aber doch immer zu rechter Zeit darein zurücklenkend. Welche
Fülle von Gelehrsamkeit breitet er vermöge seiner reichen Belesenheit vor uns
aus! Bald sind es kunsthistorische, bald kunstmythologische Fragen, die uns
beschäftigen, bald haben wir Veranlassung, um Thatsachen der griechischen
oder römischen, bald um solche der deutschen oder englischen, französischen
oder italienischen Literaturgeschichte uns zu kümmern, und doch ist alles dieses
nur Mittel zum Zweck, alles ist, näher oder ferner, bezogen auf die wich¬
tigen ästhetischen Untersuchungen, die den Kern der Schrift ausmachen. Die
Gefahr, daß diese Mannichfaltigkeit eher zerstreuend, als belehrend wirken, daß
das stückweise aus den verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten herangezogene
rasch wieder verloren gehe, ist allerdings vorhanden; aber sie wird abge¬
schwächt eben durch die coneentrirende Macht der Untersuchung selbst, und
sie kann beinahe ganz beseitigt werden, wenn nur der Lesende keiner auf¬
tauchenden Frage ausweicht, jede zum Austrag zu bringen sich ernstlich bemüht.
Wer drüber hinfahren will, der hat von keinem Buche Gewinn. Die andere
Gefahr freilich, daß man viel außer Curs gesetzte Ansichten für baare Münze
nehme, kann nur an der Hand eines guten Interpreten vermieden werden,
wenn man nicht selber fähig ist, dieser Interpret zu sein. Ein solcher aber
wird verfahren müssen, wie der Anwalt in seiner „Einlassung" auf eine Klage¬
schrift, sein Commentar wird zwischen einem fortwährenden eoneeävnäo und
nvMvdl) abwechseln müssen, und häusiger noch wird das nvganäo seine Auf¬
gabe sein, er wird ein unausgesetztes Correctiv zu Lessing's Darstellung bil¬
den müssen. Thut er dies aber, dann wird auch das Schiefe und Veraltete
für den Leser genau so lehrreich werden, wie das Nichtige und Bleibende,
vielleicht noch lehrreicher, denn es läßt ihn zugleich auf den verschiedensten
wissenschaftlichen Gebieten einen Einblick thun in die Fortschritte der Wissen¬
schaft, es bringt ihm zum Bewußtsein, daß die wissenschaftliche Forschung
in stetem Flusse ist, und es giebt ihm wohl auch eine Ahnung von jener


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/414>, abgerufen am 27.09.2024.