Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.beinahe komisch, zu sehen, wie in unsern Literaturgeschichten der "Laokoon" Zwar hat in den philologischen und archäologischen Partieen gar manches beinahe komisch, zu sehen, wie in unsern Literaturgeschichten der „Laokoon" Zwar hat in den philologischen und archäologischen Partieen gar manches <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0410" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136521"/> <p xml:id="ID_1067" prev="#ID_1066"> beinahe komisch, zu sehen, wie in unsern Literaturgeschichten der „Laokoon"<lb/> bald als die „erste eigentliche Urkunde", bald als die „Stiftungsurkunde"<lb/> bald als die „Nagna. ekarts," der modernen Aesthetik gepriesen wird. Ob die,<lb/> welche so schreiben, wohl jemals den „Laokoon" von Anfang bis zu Ende<lb/> gründlich gelesen haben? — In Wahrheit stehen die Dinge so: Der „Laokoon"<lb/> setzt sich aus einer Anzahl einzelner Aufsätze zusammen, deren Inhalt zum<lb/> Theil durch ästhetische Untersuchungen, zum Theil aber auch durch philologische<lb/> und archäologische Excurse, die jenen Untersuchungen nur dienen, gebildet<lb/> wird und die unter einander bald in engerem, bald in loserem Zusammen¬<lb/> hange stehen. „Mehr unordentliche Collectanea zu einem Buche, als ein<lb/> Buch" nennt ihn Lessing selbst im Vorworte. Von dem mannichfaltigen In¬<lb/> halt dieser Aufsätze aber ist ein sehr großer Theil heute sachlich total<lb/> veraltet.</p><lb/> <p xml:id="ID_1068" next="#ID_1069"> Zwar hat in den philologischen und archäologischen Partieen gar manches<lb/> auch heute noch seine Giltigkeit. Von mehr als einer Stelle in den alten<lb/> Schriftstellern hat Lessing im „Laokoon " zuerst das richtige Verständniß erschlossen.<lb/> Daß der „Hinkende" des Pythagoras von Rhegion, den Plinius erwähnt,<lb/> nichts anderes als eine Statue des Philoktet war, hat Lessing zuerst im<lb/> „Laokoon" vermuthet, und niemand hat gewagt, seine Vermuthung je wieder<lb/> anzufechten. „Ich darf behaupten, daß sie nie eine Furie gebildet haben,"<lb/> sagt er an anderer Stelle von den alten Künstlern, und in demjenigen Sinne<lb/> wenigstens, wie Lessing hier den Ausdruck „Furie" genommen wissen will, besteht<lb/> seine Behauptung noch heute zu Rechte. „Wie die Alten den Tod gebildet,"<lb/> diese Frage, die er später in einer besonderen epochemachenden Schrift be¬<lb/> handelte, schon im „Laokoon" ist sie in der Kürze richtig beantwortet. Und<lb/> wer unterschriebe nicht heute noch mit Freuden das gesunde Urtheil, das er<lb/> über den hohlen Stoicismus Cicero's gefällt? Wer möchte es ihm nicht heute<lb/> noch danken, daß er den Homer, den damals kaum gekannten, vor dem weit<lb/> überschätzten und fast vergötterten Virgil in die ihm gebührende Stellung<lb/> einsetzte? Wer stimmte ihm nicht bei, wenn er die Helden in den seiner Zeit<lb/> vielbewunderten „sogenannten" Tragödien Seneca's als bloße „Klopffechter<lb/> im Kothurne" bezeichnet? Aber auch von den ästhetischen Forderungen<lb/> Lessing's haben einzelne noch nichts von ihrem Werthe verloren; sie waren<lb/> von dem Augenblicke an, wo er sie aussprach, Hauptgesetze der Aesthetik, und<lb/> sie werden es bleiben, — so wenig auch die heutige Künstlerwelt nach ihnen<lb/> fragt. „Seit wir Lessing's Laokoon besitzen, gehört der Satz, daß der Dichter<lb/> nicht malen soll, in das ABC der Poesie" schreibt Bischer mit Recht in<lb/> seiner „Aesthetik"; und wenn auch unsre Romanschreiber sich nicht entfernt<lb/> um diesen Satz kümmern, wenn sie in breiter Ausmalung landschaftlicher<lb/> und menschlicher Schönheit es auch heute noch genau so treiben, wie die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0410]
beinahe komisch, zu sehen, wie in unsern Literaturgeschichten der „Laokoon"
bald als die „erste eigentliche Urkunde", bald als die „Stiftungsurkunde"
bald als die „Nagna. ekarts," der modernen Aesthetik gepriesen wird. Ob die,
welche so schreiben, wohl jemals den „Laokoon" von Anfang bis zu Ende
gründlich gelesen haben? — In Wahrheit stehen die Dinge so: Der „Laokoon"
setzt sich aus einer Anzahl einzelner Aufsätze zusammen, deren Inhalt zum
Theil durch ästhetische Untersuchungen, zum Theil aber auch durch philologische
und archäologische Excurse, die jenen Untersuchungen nur dienen, gebildet
wird und die unter einander bald in engerem, bald in loserem Zusammen¬
hange stehen. „Mehr unordentliche Collectanea zu einem Buche, als ein
Buch" nennt ihn Lessing selbst im Vorworte. Von dem mannichfaltigen In¬
halt dieser Aufsätze aber ist ein sehr großer Theil heute sachlich total
veraltet.
Zwar hat in den philologischen und archäologischen Partieen gar manches
auch heute noch seine Giltigkeit. Von mehr als einer Stelle in den alten
Schriftstellern hat Lessing im „Laokoon " zuerst das richtige Verständniß erschlossen.
Daß der „Hinkende" des Pythagoras von Rhegion, den Plinius erwähnt,
nichts anderes als eine Statue des Philoktet war, hat Lessing zuerst im
„Laokoon" vermuthet, und niemand hat gewagt, seine Vermuthung je wieder
anzufechten. „Ich darf behaupten, daß sie nie eine Furie gebildet haben,"
sagt er an anderer Stelle von den alten Künstlern, und in demjenigen Sinne
wenigstens, wie Lessing hier den Ausdruck „Furie" genommen wissen will, besteht
seine Behauptung noch heute zu Rechte. „Wie die Alten den Tod gebildet,"
diese Frage, die er später in einer besonderen epochemachenden Schrift be¬
handelte, schon im „Laokoon" ist sie in der Kürze richtig beantwortet. Und
wer unterschriebe nicht heute noch mit Freuden das gesunde Urtheil, das er
über den hohlen Stoicismus Cicero's gefällt? Wer möchte es ihm nicht heute
noch danken, daß er den Homer, den damals kaum gekannten, vor dem weit
überschätzten und fast vergötterten Virgil in die ihm gebührende Stellung
einsetzte? Wer stimmte ihm nicht bei, wenn er die Helden in den seiner Zeit
vielbewunderten „sogenannten" Tragödien Seneca's als bloße „Klopffechter
im Kothurne" bezeichnet? Aber auch von den ästhetischen Forderungen
Lessing's haben einzelne noch nichts von ihrem Werthe verloren; sie waren
von dem Augenblicke an, wo er sie aussprach, Hauptgesetze der Aesthetik, und
sie werden es bleiben, — so wenig auch die heutige Künstlerwelt nach ihnen
fragt. „Seit wir Lessing's Laokoon besitzen, gehört der Satz, daß der Dichter
nicht malen soll, in das ABC der Poesie" schreibt Bischer mit Recht in
seiner „Aesthetik"; und wenn auch unsre Romanschreiber sich nicht entfernt
um diesen Satz kümmern, wenn sie in breiter Ausmalung landschaftlicher
und menschlicher Schönheit es auch heute noch genau so treiben, wie die
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