Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

terscheiden, so hat im Allgemeinen, wie bei den Generalrathswahlen, die ge¬
mäßigt liberale Partei der sog. Autonomsten über die der Protestler und
Ultramontanen den Sieg davon getragen.

In Mut Hausen haben sich die Klerikalen aus allerlei zusammengeschach¬
telten Gründen und Motiven der Wahl gänzlich enthalten, weil sie doch am
Ende eine Schlappe voraussehen mochten. Es hat dies übrigens nicht viel
zu bedeuten und ist keineswegs etwaigen eifrigen Anstrengungen der Liberalen
in dieser Industriestadt zu verdanken, deren Bevölkerung noch kürzlich von
dem Organe der Industriellen in selbstschmeichlerischer Eitelkeit die intelligen¬
teste des Elsasses genannt wurde. In der That ließ sich bisher von dieser
ruhmrediger Intelligenz in xuucto der Betheiligung an den allgemeinen
Landes-Jnteressen und Ausübung der verfassungsmäßigen Bürgerrechte und
Pflichten noch bitter wenig verspüren. Wie vor einem Monate gefiel man sich
in Mülhausen auch jetzt wieder in dem lächerlichen und schon längst von allen
Vernünftigen und Einsichtigen gebrandmarkten System der Abstinenz und einer
nahezu unerklärlichen Indolenz. Beim ersten Wahlgang, wo nur vier Candidaten
die erforderliche Majorität erhielten, betheiligten sich von 8211 eingeschriebenen
Wählern nur 2110, bet der Stichwahl gar nur 1597 Wähler. Der "Indu¬
strie!", der diese Indolenz, um nicht zu sagen Gemüthlichkeit, seiner "aufge¬
klärten" Mitbürger wohl kaum erwartet haben mochte, macht zu diesen
schäbigen Resultaten die sentimentale Bemerkung:

"Wenn wir nun die Wahlen von 1876 mit denen vom Oktober 1872 ver¬
gleichen, finden wir noch eine größere Differenz; denn damals betrug die
Zahl der Stimmgebenden 35S0. Diese Verminderung ist eine ziemlich merk¬
würdige Erscheinung (allerdings!), deren Ursachen zu untersuchen es der Mühe
werth ist." Letzteres läßt sich bezweifeln. Treffender, aber etwas sarkastisch
bemerkt die "Neue Muth. Zeitung": "Den Enkeln der alten streitbaren Re¬
publik Mülhausen war es offenbar zu heiß, auf das Rathhaus zu gehen.
Wenn es bei den Vätern galt, für die Stadt einzutreten, so zögerten sie nicht,
den Harnisch anzulegen; den "liberalen" Enkeln ist es zu unbequem, sich den
Rock anzuziehen, um zur Wahl für das Stadtregiment zu schreiten. Die
Liberalen behaupteten das Feld; zum größten Theil aber behaupteten sie ihren
Sitz zu Hause, wo die meisten den Ausgang der Dinge abwarteten. Wahr¬
lich, die "Liberalen" brauchen nicht stolz zu sein auf ihren Sieg; er ist das
Ergebniß der allgemeinen Erschlaffung.....Das also ist die Wählerschaft
der intelligenten Stadt Mülhausen, über die wir unsere Betrachtung mit der
Bitte an den "Industrie!" schließen, uns zu verrathen, wo doch die "liberale
Partei" in der Stadt steckt.

Viel regsamer und lebendiger ging es dagegen in der zweiten oberelsässi-
schen Hauptstadt Colmar zu. Dort machte sich schon lange vor der Wahl


terscheiden, so hat im Allgemeinen, wie bei den Generalrathswahlen, die ge¬
mäßigt liberale Partei der sog. Autonomsten über die der Protestler und
Ultramontanen den Sieg davon getragen.

In Mut Hausen haben sich die Klerikalen aus allerlei zusammengeschach¬
telten Gründen und Motiven der Wahl gänzlich enthalten, weil sie doch am
Ende eine Schlappe voraussehen mochten. Es hat dies übrigens nicht viel
zu bedeuten und ist keineswegs etwaigen eifrigen Anstrengungen der Liberalen
in dieser Industriestadt zu verdanken, deren Bevölkerung noch kürzlich von
dem Organe der Industriellen in selbstschmeichlerischer Eitelkeit die intelligen¬
teste des Elsasses genannt wurde. In der That ließ sich bisher von dieser
ruhmrediger Intelligenz in xuucto der Betheiligung an den allgemeinen
Landes-Jnteressen und Ausübung der verfassungsmäßigen Bürgerrechte und
Pflichten noch bitter wenig verspüren. Wie vor einem Monate gefiel man sich
in Mülhausen auch jetzt wieder in dem lächerlichen und schon längst von allen
Vernünftigen und Einsichtigen gebrandmarkten System der Abstinenz und einer
nahezu unerklärlichen Indolenz. Beim ersten Wahlgang, wo nur vier Candidaten
die erforderliche Majorität erhielten, betheiligten sich von 8211 eingeschriebenen
Wählern nur 2110, bet der Stichwahl gar nur 1597 Wähler. Der „Indu¬
strie!", der diese Indolenz, um nicht zu sagen Gemüthlichkeit, seiner „aufge¬
klärten" Mitbürger wohl kaum erwartet haben mochte, macht zu diesen
schäbigen Resultaten die sentimentale Bemerkung:

„Wenn wir nun die Wahlen von 1876 mit denen vom Oktober 1872 ver¬
gleichen, finden wir noch eine größere Differenz; denn damals betrug die
Zahl der Stimmgebenden 35S0. Diese Verminderung ist eine ziemlich merk¬
würdige Erscheinung (allerdings!), deren Ursachen zu untersuchen es der Mühe
werth ist." Letzteres läßt sich bezweifeln. Treffender, aber etwas sarkastisch
bemerkt die „Neue Muth. Zeitung": „Den Enkeln der alten streitbaren Re¬
publik Mülhausen war es offenbar zu heiß, auf das Rathhaus zu gehen.
Wenn es bei den Vätern galt, für die Stadt einzutreten, so zögerten sie nicht,
den Harnisch anzulegen; den „liberalen" Enkeln ist es zu unbequem, sich den
Rock anzuziehen, um zur Wahl für das Stadtregiment zu schreiten. Die
Liberalen behaupteten das Feld; zum größten Theil aber behaupteten sie ihren
Sitz zu Hause, wo die meisten den Ausgang der Dinge abwarteten. Wahr¬
lich, die „Liberalen" brauchen nicht stolz zu sein auf ihren Sieg; er ist das
Ergebniß der allgemeinen Erschlaffung.....Das also ist die Wählerschaft
der intelligenten Stadt Mülhausen, über die wir unsere Betrachtung mit der
Bitte an den „Industrie!" schließen, uns zu verrathen, wo doch die „liberale
Partei" in der Stadt steckt.

Viel regsamer und lebendiger ging es dagegen in der zweiten oberelsässi-
schen Hauptstadt Colmar zu. Dort machte sich schon lange vor der Wahl


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0367" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136478"/>
          <p xml:id="ID_947" prev="#ID_946"> terscheiden, so hat im Allgemeinen, wie bei den Generalrathswahlen, die ge¬<lb/>
mäßigt liberale Partei der sog. Autonomsten über die der Protestler und<lb/>
Ultramontanen den Sieg davon getragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_948"> In Mut Hausen haben sich die Klerikalen aus allerlei zusammengeschach¬<lb/>
telten Gründen und Motiven der Wahl gänzlich enthalten, weil sie doch am<lb/>
Ende eine Schlappe voraussehen mochten. Es hat dies übrigens nicht viel<lb/>
zu bedeuten und ist keineswegs etwaigen eifrigen Anstrengungen der Liberalen<lb/>
in dieser Industriestadt zu verdanken, deren Bevölkerung noch kürzlich von<lb/>
dem Organe der Industriellen in selbstschmeichlerischer Eitelkeit die intelligen¬<lb/>
teste des Elsasses genannt wurde. In der That ließ sich bisher von dieser<lb/>
ruhmrediger Intelligenz in xuucto der Betheiligung an den allgemeinen<lb/>
Landes-Jnteressen und Ausübung der verfassungsmäßigen Bürgerrechte und<lb/>
Pflichten noch bitter wenig verspüren. Wie vor einem Monate gefiel man sich<lb/>
in Mülhausen auch jetzt wieder in dem lächerlichen und schon längst von allen<lb/>
Vernünftigen und Einsichtigen gebrandmarkten System der Abstinenz und einer<lb/>
nahezu unerklärlichen Indolenz. Beim ersten Wahlgang, wo nur vier Candidaten<lb/>
die erforderliche Majorität erhielten, betheiligten sich von 8211 eingeschriebenen<lb/>
Wählern nur 2110, bet der Stichwahl gar nur 1597 Wähler. Der &#x201E;Indu¬<lb/>
strie!", der diese Indolenz, um nicht zu sagen Gemüthlichkeit, seiner &#x201E;aufge¬<lb/>
klärten" Mitbürger wohl kaum erwartet haben mochte, macht zu diesen<lb/>
schäbigen Resultaten die sentimentale Bemerkung:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_949"> &#x201E;Wenn wir nun die Wahlen von 1876 mit denen vom Oktober 1872 ver¬<lb/>
gleichen, finden wir noch eine größere Differenz; denn damals betrug die<lb/>
Zahl der Stimmgebenden 35S0. Diese Verminderung ist eine ziemlich merk¬<lb/>
würdige Erscheinung (allerdings!), deren Ursachen zu untersuchen es der Mühe<lb/>
werth ist." Letzteres läßt sich bezweifeln. Treffender, aber etwas sarkastisch<lb/>
bemerkt die &#x201E;Neue Muth. Zeitung": &#x201E;Den Enkeln der alten streitbaren Re¬<lb/>
publik Mülhausen war es offenbar zu heiß, auf das Rathhaus zu gehen.<lb/>
Wenn es bei den Vätern galt, für die Stadt einzutreten, so zögerten sie nicht,<lb/>
den Harnisch anzulegen; den &#x201E;liberalen" Enkeln ist es zu unbequem, sich den<lb/>
Rock anzuziehen, um zur Wahl für das Stadtregiment zu schreiten. Die<lb/>
Liberalen behaupteten das Feld; zum größten Theil aber behaupteten sie ihren<lb/>
Sitz zu Hause, wo die meisten den Ausgang der Dinge abwarteten. Wahr¬<lb/>
lich, die &#x201E;Liberalen" brauchen nicht stolz zu sein auf ihren Sieg; er ist das<lb/>
Ergebniß der allgemeinen Erschlaffung.....Das also ist die Wählerschaft<lb/>
der intelligenten Stadt Mülhausen, über die wir unsere Betrachtung mit der<lb/>
Bitte an den &#x201E;Industrie!" schließen, uns zu verrathen, wo doch die &#x201E;liberale<lb/>
Partei" in der Stadt steckt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_950" next="#ID_951"> Viel regsamer und lebendiger ging es dagegen in der zweiten oberelsässi-<lb/>
schen Hauptstadt Colmar zu. Dort machte sich schon lange vor der Wahl</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0367] terscheiden, so hat im Allgemeinen, wie bei den Generalrathswahlen, die ge¬ mäßigt liberale Partei der sog. Autonomsten über die der Protestler und Ultramontanen den Sieg davon getragen. In Mut Hausen haben sich die Klerikalen aus allerlei zusammengeschach¬ telten Gründen und Motiven der Wahl gänzlich enthalten, weil sie doch am Ende eine Schlappe voraussehen mochten. Es hat dies übrigens nicht viel zu bedeuten und ist keineswegs etwaigen eifrigen Anstrengungen der Liberalen in dieser Industriestadt zu verdanken, deren Bevölkerung noch kürzlich von dem Organe der Industriellen in selbstschmeichlerischer Eitelkeit die intelligen¬ teste des Elsasses genannt wurde. In der That ließ sich bisher von dieser ruhmrediger Intelligenz in xuucto der Betheiligung an den allgemeinen Landes-Jnteressen und Ausübung der verfassungsmäßigen Bürgerrechte und Pflichten noch bitter wenig verspüren. Wie vor einem Monate gefiel man sich in Mülhausen auch jetzt wieder in dem lächerlichen und schon längst von allen Vernünftigen und Einsichtigen gebrandmarkten System der Abstinenz und einer nahezu unerklärlichen Indolenz. Beim ersten Wahlgang, wo nur vier Candidaten die erforderliche Majorität erhielten, betheiligten sich von 8211 eingeschriebenen Wählern nur 2110, bet der Stichwahl gar nur 1597 Wähler. Der „Indu¬ strie!", der diese Indolenz, um nicht zu sagen Gemüthlichkeit, seiner „aufge¬ klärten" Mitbürger wohl kaum erwartet haben mochte, macht zu diesen schäbigen Resultaten die sentimentale Bemerkung: „Wenn wir nun die Wahlen von 1876 mit denen vom Oktober 1872 ver¬ gleichen, finden wir noch eine größere Differenz; denn damals betrug die Zahl der Stimmgebenden 35S0. Diese Verminderung ist eine ziemlich merk¬ würdige Erscheinung (allerdings!), deren Ursachen zu untersuchen es der Mühe werth ist." Letzteres läßt sich bezweifeln. Treffender, aber etwas sarkastisch bemerkt die „Neue Muth. Zeitung": „Den Enkeln der alten streitbaren Re¬ publik Mülhausen war es offenbar zu heiß, auf das Rathhaus zu gehen. Wenn es bei den Vätern galt, für die Stadt einzutreten, so zögerten sie nicht, den Harnisch anzulegen; den „liberalen" Enkeln ist es zu unbequem, sich den Rock anzuziehen, um zur Wahl für das Stadtregiment zu schreiten. Die Liberalen behaupteten das Feld; zum größten Theil aber behaupteten sie ihren Sitz zu Hause, wo die meisten den Ausgang der Dinge abwarteten. Wahr¬ lich, die „Liberalen" brauchen nicht stolz zu sein auf ihren Sieg; er ist das Ergebniß der allgemeinen Erschlaffung.....Das also ist die Wählerschaft der intelligenten Stadt Mülhausen, über die wir unsere Betrachtung mit der Bitte an den „Industrie!" schließen, uns zu verrathen, wo doch die „liberale Partei" in der Stadt steckt. Viel regsamer und lebendiger ging es dagegen in der zweiten oberelsässi- schen Hauptstadt Colmar zu. Dort machte sich schon lange vor der Wahl

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/367
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/367>, abgerufen am 27.09.2024.