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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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ganze Gedeihen des Versicherungsgeschäftes sei bedingt durch die Freiheit,
werde aber nur beengt "durch die Zwangsjacke der Staatseontrole" als ein
einseitiges und unhaltbares erweisen*).

Vor manchen Jahren schon war in der Schweiz, namentlich auf dem
Lande der Verdacht verbreitet, daß die zunehmenden Feuersbrünste mit den
Assekuranzen zusammen hängen. Flagrante Fälle kamen vor die Geschwornen-
Gerichte, und bald wurde es Maxime, daß die Geschwornen über erwiesene
Brandstiftungen die strengsten Urtheile fällten. So nahm also die Criminal-
Justiz die Brandstiftung als ein besonderes Capitalverbrechen aufs Korn,
um einem Verderben zu steuern, welches die Gesetzgebung bis dahin nicht
genügend verhüten konnte.

Es möchte die Frage sein, in wiefern die gegenwärtigen Forderungen des
Ultramontanismus, der Staat solle eine unbedingte Religionsfreiheit aner¬
kennen, mit dem sogenannten Manchester-Princip verwandt sei. Jedenfalls
werden die Vertreter der Manchesterfreiheit nicht in einem Athemzuge sich zu
den papistischen Ketzerverbrennungen bekennen und daneben unbedingte Reli¬
gionsfreiheit erheischen. Darin aber sind beide Systeme verwandt, daß sie dem
Staat die Controle über den Umfang der in seinem Bezirk cursirenden
Freiheiten verweigern. Ihr Gegensatz liegt darin, daß die Einen eine einzige
durchaus concrete, ausschließliche Freiheit im Sinne haben, das vaticanische
Concretum. die Anderen ein internationales, schrankenloses Abstractum. Das
Staatsbewußtsein der Gegenwart ist im Begriff, über beide Karricaturen der
Freiheit hinauszuschreiten; möge der Schritt nicht zu einem sich selber über¬
stürzenden Sprunge werden.

Ohne Zweifel kann man alle Assekurranzen als partielle Anweisungen
an die Gütergemeinschaft, theilweise Verwirklichungen derselben betrachten.
In sofern aber sind sie dann auch natürliche Emanationen der Staatsidee.
Denn der Staat ist eben die potentielle Gütergemeinschaft einer gesetzlich
organisirten Nation, Diese Eigenschaft des Staates tritt am stärksten her¬
vor in der Milttairvflicht, deutlich genug aber auch in der Armenpflege und in
dem Steuerwesen. Wie nach dem Gebot der Noth aus der Mtlitairpflicht
der Landsturm hervorgeht, so aus der nothdürftigsten Armenpflege eine reiche
Verzweigung von Versorgungsanstalten, aus dem niedrigsten Steuerfuß ein
Complex von größeren Anforderungen. Die Gesundheit des Staates besteht
nun wohl in der richtigen Bewegung des Verhältnisses zwischen der allge¬
meinen potentiellen Gütergemeinschaft, dem großen Reservoir des nationalen
Reichthums und dem geheiligten freien Besitz und Erwerb der einzelnen



") S. den Artikel Versicherungswesen in dem Handwörterbuch der Volkswirthschaftslch c
von Nentsch (Leipzig 1870).

ganze Gedeihen des Versicherungsgeschäftes sei bedingt durch die Freiheit,
werde aber nur beengt „durch die Zwangsjacke der Staatseontrole" als ein
einseitiges und unhaltbares erweisen*).

Vor manchen Jahren schon war in der Schweiz, namentlich auf dem
Lande der Verdacht verbreitet, daß die zunehmenden Feuersbrünste mit den
Assekuranzen zusammen hängen. Flagrante Fälle kamen vor die Geschwornen-
Gerichte, und bald wurde es Maxime, daß die Geschwornen über erwiesene
Brandstiftungen die strengsten Urtheile fällten. So nahm also die Criminal-
Justiz die Brandstiftung als ein besonderes Capitalverbrechen aufs Korn,
um einem Verderben zu steuern, welches die Gesetzgebung bis dahin nicht
genügend verhüten konnte.

Es möchte die Frage sein, in wiefern die gegenwärtigen Forderungen des
Ultramontanismus, der Staat solle eine unbedingte Religionsfreiheit aner¬
kennen, mit dem sogenannten Manchester-Princip verwandt sei. Jedenfalls
werden die Vertreter der Manchesterfreiheit nicht in einem Athemzuge sich zu
den papistischen Ketzerverbrennungen bekennen und daneben unbedingte Reli¬
gionsfreiheit erheischen. Darin aber sind beide Systeme verwandt, daß sie dem
Staat die Controle über den Umfang der in seinem Bezirk cursirenden
Freiheiten verweigern. Ihr Gegensatz liegt darin, daß die Einen eine einzige
durchaus concrete, ausschließliche Freiheit im Sinne haben, das vaticanische
Concretum. die Anderen ein internationales, schrankenloses Abstractum. Das
Staatsbewußtsein der Gegenwart ist im Begriff, über beide Karricaturen der
Freiheit hinauszuschreiten; möge der Schritt nicht zu einem sich selber über¬
stürzenden Sprunge werden.

Ohne Zweifel kann man alle Assekurranzen als partielle Anweisungen
an die Gütergemeinschaft, theilweise Verwirklichungen derselben betrachten.
In sofern aber sind sie dann auch natürliche Emanationen der Staatsidee.
Denn der Staat ist eben die potentielle Gütergemeinschaft einer gesetzlich
organisirten Nation, Diese Eigenschaft des Staates tritt am stärksten her¬
vor in der Milttairvflicht, deutlich genug aber auch in der Armenpflege und in
dem Steuerwesen. Wie nach dem Gebot der Noth aus der Mtlitairpflicht
der Landsturm hervorgeht, so aus der nothdürftigsten Armenpflege eine reiche
Verzweigung von Versorgungsanstalten, aus dem niedrigsten Steuerfuß ein
Complex von größeren Anforderungen. Die Gesundheit des Staates besteht
nun wohl in der richtigen Bewegung des Verhältnisses zwischen der allge¬
meinen potentiellen Gütergemeinschaft, dem großen Reservoir des nationalen
Reichthums und dem geheiligten freien Besitz und Erwerb der einzelnen



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von Nentsch (Leipzig 1870).
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[0285] ganze Gedeihen des Versicherungsgeschäftes sei bedingt durch die Freiheit, werde aber nur beengt „durch die Zwangsjacke der Staatseontrole" als ein einseitiges und unhaltbares erweisen*). Vor manchen Jahren schon war in der Schweiz, namentlich auf dem Lande der Verdacht verbreitet, daß die zunehmenden Feuersbrünste mit den Assekuranzen zusammen hängen. Flagrante Fälle kamen vor die Geschwornen- Gerichte, und bald wurde es Maxime, daß die Geschwornen über erwiesene Brandstiftungen die strengsten Urtheile fällten. So nahm also die Criminal- Justiz die Brandstiftung als ein besonderes Capitalverbrechen aufs Korn, um einem Verderben zu steuern, welches die Gesetzgebung bis dahin nicht genügend verhüten konnte. Es möchte die Frage sein, in wiefern die gegenwärtigen Forderungen des Ultramontanismus, der Staat solle eine unbedingte Religionsfreiheit aner¬ kennen, mit dem sogenannten Manchester-Princip verwandt sei. Jedenfalls werden die Vertreter der Manchesterfreiheit nicht in einem Athemzuge sich zu den papistischen Ketzerverbrennungen bekennen und daneben unbedingte Reli¬ gionsfreiheit erheischen. Darin aber sind beide Systeme verwandt, daß sie dem Staat die Controle über den Umfang der in seinem Bezirk cursirenden Freiheiten verweigern. Ihr Gegensatz liegt darin, daß die Einen eine einzige durchaus concrete, ausschließliche Freiheit im Sinne haben, das vaticanische Concretum. die Anderen ein internationales, schrankenloses Abstractum. Das Staatsbewußtsein der Gegenwart ist im Begriff, über beide Karricaturen der Freiheit hinauszuschreiten; möge der Schritt nicht zu einem sich selber über¬ stürzenden Sprunge werden. Ohne Zweifel kann man alle Assekurranzen als partielle Anweisungen an die Gütergemeinschaft, theilweise Verwirklichungen derselben betrachten. In sofern aber sind sie dann auch natürliche Emanationen der Staatsidee. Denn der Staat ist eben die potentielle Gütergemeinschaft einer gesetzlich organisirten Nation, Diese Eigenschaft des Staates tritt am stärksten her¬ vor in der Milttairvflicht, deutlich genug aber auch in der Armenpflege und in dem Steuerwesen. Wie nach dem Gebot der Noth aus der Mtlitairpflicht der Landsturm hervorgeht, so aus der nothdürftigsten Armenpflege eine reiche Verzweigung von Versorgungsanstalten, aus dem niedrigsten Steuerfuß ein Complex von größeren Anforderungen. Die Gesundheit des Staates besteht nun wohl in der richtigen Bewegung des Verhältnisses zwischen der allge¬ meinen potentiellen Gütergemeinschaft, dem großen Reservoir des nationalen Reichthums und dem geheiligten freien Besitz und Erwerb der einzelnen ") S. den Artikel Versicherungswesen in dem Handwörterbuch der Volkswirthschaftslch c von Nentsch (Leipzig 1870).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/285>, abgerufen am 27.09.2024.