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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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volle Auszahlung des erwähnten fünfprocentigen Zinsbetrags sowie die
Tilgung der neuen Schuldtitel zur Bestimmung haben werden.

Ein offizieller Nachweis behauptete, daß die zur Deckung der Coupon¬
zahlung nöthigen Mittel vorhanden sein würden. Schon am 29, März d. I.
aber theilte die türkische Regierung den auswärtigen Botschaftern mit. daß
der am 1. April fällige Coupon erst am 1. Juli eingelöst werden könne,
und daß die Pforte sich principiell für die Unifieirung sämmtlicher ottomanischen
Staatsschulden entschieden habe.

Das letztverflossne Jahr wies ein Deficit von 6,046,133 Pfund Ster¬
ling und wiederum eine Verminderung der Staatseinnahmen um 3 bis 6
Procent auf.

Die Projecte zur Beseitigung oder Milderung der Finanznoth sind folgende:
1) Sistirung der Tilgung aller Staatsobligationen aus fünf Jahre; die hier¬
durch freiwerdenden Gelder, circa 812,333 Pfund Sterling, sollen zu Zins¬
erhöhungen verwendet werden. 2) Einführung einer neuen nach verschiedenen
Abstufungen jährlich zu zahlenden Patentsteuer für alle Bankiers, Anonymc-
und Commanditgesellschaften, alle Creditinstitute, welche Bankoperationen
betreiben, alle Feuer-, Lebens- und Transportversicherungsgesellschaften, welche
stehend in der Türkei residiren oder dort Agenturen unterhalten, alle in- und
ausländischen Schifffahrtseompagnien und deren Agenturen, alle Großhändler
und alle Gesellschaften, welche Großhandel betreiben. 3) Die Erhöhung des
Zolltarifs für Einfuhr von 8 auf 20 Procent. 4) Ersparnisse. Vom Juli
v. I. an sind die Gehälter über 3000 Piaster um die Hälfte des Ueberschusses
herabgesetzt worden, sodaß der Großwessir jetzt, statt wie bisher 130,000,
nur 30,000 Piaster monatlich erhält, und die Generalgouverneure der Pro¬
vinzen theils 20, theils 25.000 Piaster bekommen. Vorläufig beziehen indeß
die Beamten -- die hohen Würdenträger natürlich wie immer ausgenommen
-- entweder gar keinen oder doch nur einen sehr geringen Gehalt, und das
Heer soll schon seit einem Jahre keinen Sold gesehen haben, was früher
wenigstens die Gardetruppen nicht erlebten. In der letzten Zeit ist auch die
Summe, die der Hofhalt des Sultans alljährlich beanspruchte, erheblich ein¬
geschränkt worden.

Das bedeutendste Project zur Besserung der finanziellen Zustände der
Türkei , zugleich aber auch dasjenige, welches dem religiösen Gefühle der
Muslime am meisten widerstrebt, ist das schon seit Jahrzehnten ventilirte
einer Nutzbarmachung des oben erwähnten Wakuf für den Staat. Genaueres
über diese Einrichtung findet man in Charles White's "Drei Jahre in Con-
stantinopel" (Uebersetzung von Fink, 1. Abtheilung S. 230 ff,). Hier genügt
Folgendes: Wakuf bedeutet zunächst die Weihung eines Gegenstandes zu
einem frommen Zwecke, jetzt versteht man darunter auch die betreffenden Ver-


volle Auszahlung des erwähnten fünfprocentigen Zinsbetrags sowie die
Tilgung der neuen Schuldtitel zur Bestimmung haben werden.

Ein offizieller Nachweis behauptete, daß die zur Deckung der Coupon¬
zahlung nöthigen Mittel vorhanden sein würden. Schon am 29, März d. I.
aber theilte die türkische Regierung den auswärtigen Botschaftern mit. daß
der am 1. April fällige Coupon erst am 1. Juli eingelöst werden könne,
und daß die Pforte sich principiell für die Unifieirung sämmtlicher ottomanischen
Staatsschulden entschieden habe.

Das letztverflossne Jahr wies ein Deficit von 6,046,133 Pfund Ster¬
ling und wiederum eine Verminderung der Staatseinnahmen um 3 bis 6
Procent auf.

Die Projecte zur Beseitigung oder Milderung der Finanznoth sind folgende:
1) Sistirung der Tilgung aller Staatsobligationen aus fünf Jahre; die hier¬
durch freiwerdenden Gelder, circa 812,333 Pfund Sterling, sollen zu Zins¬
erhöhungen verwendet werden. 2) Einführung einer neuen nach verschiedenen
Abstufungen jährlich zu zahlenden Patentsteuer für alle Bankiers, Anonymc-
und Commanditgesellschaften, alle Creditinstitute, welche Bankoperationen
betreiben, alle Feuer-, Lebens- und Transportversicherungsgesellschaften, welche
stehend in der Türkei residiren oder dort Agenturen unterhalten, alle in- und
ausländischen Schifffahrtseompagnien und deren Agenturen, alle Großhändler
und alle Gesellschaften, welche Großhandel betreiben. 3) Die Erhöhung des
Zolltarifs für Einfuhr von 8 auf 20 Procent. 4) Ersparnisse. Vom Juli
v. I. an sind die Gehälter über 3000 Piaster um die Hälfte des Ueberschusses
herabgesetzt worden, sodaß der Großwessir jetzt, statt wie bisher 130,000,
nur 30,000 Piaster monatlich erhält, und die Generalgouverneure der Pro¬
vinzen theils 20, theils 25.000 Piaster bekommen. Vorläufig beziehen indeß
die Beamten — die hohen Würdenträger natürlich wie immer ausgenommen
— entweder gar keinen oder doch nur einen sehr geringen Gehalt, und das
Heer soll schon seit einem Jahre keinen Sold gesehen haben, was früher
wenigstens die Gardetruppen nicht erlebten. In der letzten Zeit ist auch die
Summe, die der Hofhalt des Sultans alljährlich beanspruchte, erheblich ein¬
geschränkt worden.

Das bedeutendste Project zur Besserung der finanziellen Zustände der
Türkei , zugleich aber auch dasjenige, welches dem religiösen Gefühle der
Muslime am meisten widerstrebt, ist das schon seit Jahrzehnten ventilirte
einer Nutzbarmachung des oben erwähnten Wakuf für den Staat. Genaueres
über diese Einrichtung findet man in Charles White's „Drei Jahre in Con-
stantinopel" (Uebersetzung von Fink, 1. Abtheilung S. 230 ff,). Hier genügt
Folgendes: Wakuf bedeutet zunächst die Weihung eines Gegenstandes zu
einem frommen Zwecke, jetzt versteht man darunter auch die betreffenden Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/253>, abgerufen am 27.09.2024.