Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ihrer Ausführung erforderte. Der Krieg mit Rußland und verschiedene
andere Umstände, vorzüglich die unaufhörlichen Kämpfe mit empörten Pro¬
vinzen, nöthigten die Pforte, ihre Abneigung vor Anleihen zurückzudrängen,
und jetzt begann eine Periode rapiden finanziellen Verfalls, dem sich in den
letzten fünf Jahren eine galoppirende Schwindsucht auf dem ganzen Gebiete
der Volkswirthschaft beigesellte. Der Engländer Farley giebt für diese Er¬
scheinung folgende Gründe an: die ungeheure, nahezu wahnsinnige Ver¬
schwendung des Sultans Abdul Asif, die furchtbare Bedrückung der länd-
lichen Bevölkerung durch unaufhörlich wechselnde Statthalter, die Entlassung
der meisten europäischen sowie der unter Fuad und Aali eingesetzten recht¬
schaffnen türkischen Administrativbeamten und verschiedene Schädigungen des
Handels durch unverständige Maßregeln. Dazu treten aber noch andere Ur¬
sachen, vor Allem die fortwährende Abnahme der muslimischen Bevölkerung
durch das hier weitverbreitete Laster des Kinderabtreibens, durch die allein
auf ihr ruhende Militärlast und durch Hungersnoth in Landstrichen, denen
wegen Mangels an ordentlichen Straßen nicht zu helfen ist. sodaß es vor¬
kommen konnte, daß im vorigen Jahre im Innern Kleinasiens 160,000
Menschen verhungerten, ferner die stetige Verminderung des Wohlstandes der
Muhamedaner, die auf die Trägheit derselben zurückzuführen ist, welche nicht
mehr arbeitet, als unbedingt zum Erwerb des Lebensunterhalts erforderlich
ist, die Jnsurrection in Bosnien, welche einen großen Theil der Einwohner
dieses Vilajets über die Grenze trieb, die Ernte vernichtete und weite Land¬
strecken veröden ließ, endlich die Einführung des neuen Tabaksreglements
infolge deren die früher sehr einträgliche Cultur des Tabaks beinahe völlig
aufgehört hat.

Die regelmäßigen und gesetzlichen Einnahmen der türkischen Großwürden¬
träger betrugen bis vor einigen Monaten durchschnittlich vier bis fünf Mal
so viel als die der gleichstehenden englischen Beamten, und die thatsächlichen
Ausgaben des Hofes beliefen sich allermindestens auf das Doppelte der bud¬
getmäßig festgestellten Voranschläge. Die gesammten Staatsschulden der
Türkei -- im Laufe von nur 22 Jahren contrahirt -- werden aus 202,
664, 420 Pfund Sterling (4,051, 088, 400 Mark d. M.) berechnet, von denen
31,680,000 Pfund Sterling aus das Eisenbahnlotterie-Anlehen kommen und
der Rest durch direct in London aufgelegte Anleihen aufgebracht worden ist.
Von 1854 bis 1865 sind nicht weniger als 37 Millionen Pfund Sterling
Ausgenommen worden. Seit dem Tode Aali Paschas hat man jedes Jahr
Mindestens eine Anleihe gemacht und dadurch binnen fünf Jahren die unge¬
heure Summe von 106,826,200 Pfund Sterling in das türkische Schuldbuch
geschrieben, ohne daß sich dafür auch nur eine einzige productive Anlage
nachweisen ließe.


ihrer Ausführung erforderte. Der Krieg mit Rußland und verschiedene
andere Umstände, vorzüglich die unaufhörlichen Kämpfe mit empörten Pro¬
vinzen, nöthigten die Pforte, ihre Abneigung vor Anleihen zurückzudrängen,
und jetzt begann eine Periode rapiden finanziellen Verfalls, dem sich in den
letzten fünf Jahren eine galoppirende Schwindsucht auf dem ganzen Gebiete
der Volkswirthschaft beigesellte. Der Engländer Farley giebt für diese Er¬
scheinung folgende Gründe an: die ungeheure, nahezu wahnsinnige Ver¬
schwendung des Sultans Abdul Asif, die furchtbare Bedrückung der länd-
lichen Bevölkerung durch unaufhörlich wechselnde Statthalter, die Entlassung
der meisten europäischen sowie der unter Fuad und Aali eingesetzten recht¬
schaffnen türkischen Administrativbeamten und verschiedene Schädigungen des
Handels durch unverständige Maßregeln. Dazu treten aber noch andere Ur¬
sachen, vor Allem die fortwährende Abnahme der muslimischen Bevölkerung
durch das hier weitverbreitete Laster des Kinderabtreibens, durch die allein
auf ihr ruhende Militärlast und durch Hungersnoth in Landstrichen, denen
wegen Mangels an ordentlichen Straßen nicht zu helfen ist. sodaß es vor¬
kommen konnte, daß im vorigen Jahre im Innern Kleinasiens 160,000
Menschen verhungerten, ferner die stetige Verminderung des Wohlstandes der
Muhamedaner, die auf die Trägheit derselben zurückzuführen ist, welche nicht
mehr arbeitet, als unbedingt zum Erwerb des Lebensunterhalts erforderlich
ist, die Jnsurrection in Bosnien, welche einen großen Theil der Einwohner
dieses Vilajets über die Grenze trieb, die Ernte vernichtete und weite Land¬
strecken veröden ließ, endlich die Einführung des neuen Tabaksreglements
infolge deren die früher sehr einträgliche Cultur des Tabaks beinahe völlig
aufgehört hat.

Die regelmäßigen und gesetzlichen Einnahmen der türkischen Großwürden¬
träger betrugen bis vor einigen Monaten durchschnittlich vier bis fünf Mal
so viel als die der gleichstehenden englischen Beamten, und die thatsächlichen
Ausgaben des Hofes beliefen sich allermindestens auf das Doppelte der bud¬
getmäßig festgestellten Voranschläge. Die gesammten Staatsschulden der
Türkei — im Laufe von nur 22 Jahren contrahirt — werden aus 202,
664, 420 Pfund Sterling (4,051, 088, 400 Mark d. M.) berechnet, von denen
31,680,000 Pfund Sterling aus das Eisenbahnlotterie-Anlehen kommen und
der Rest durch direct in London aufgelegte Anleihen aufgebracht worden ist.
Von 1854 bis 1865 sind nicht weniger als 37 Millionen Pfund Sterling
Ausgenommen worden. Seit dem Tode Aali Paschas hat man jedes Jahr
Mindestens eine Anleihe gemacht und dadurch binnen fünf Jahren die unge¬
heure Summe von 106,826,200 Pfund Sterling in das türkische Schuldbuch
geschrieben, ohne daß sich dafür auch nur eine einzige productive Anlage
nachweisen ließe.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0251" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136362"/>
          <p xml:id="ID_623" prev="#ID_622"> ihrer Ausführung erforderte. Der Krieg mit Rußland und verschiedene<lb/>
andere Umstände, vorzüglich die unaufhörlichen Kämpfe mit empörten Pro¬<lb/>
vinzen, nöthigten die Pforte, ihre Abneigung vor Anleihen zurückzudrängen,<lb/>
und jetzt begann eine Periode rapiden finanziellen Verfalls, dem sich in den<lb/>
letzten fünf Jahren eine galoppirende Schwindsucht auf dem ganzen Gebiete<lb/>
der Volkswirthschaft beigesellte. Der Engländer Farley giebt für diese Er¬<lb/>
scheinung folgende Gründe an: die ungeheure, nahezu wahnsinnige Ver¬<lb/>
schwendung des Sultans Abdul Asif, die furchtbare Bedrückung der länd-<lb/>
lichen Bevölkerung durch unaufhörlich wechselnde Statthalter, die Entlassung<lb/>
der meisten europäischen sowie der unter Fuad und Aali eingesetzten recht¬<lb/>
schaffnen türkischen Administrativbeamten und verschiedene Schädigungen des<lb/>
Handels durch unverständige Maßregeln. Dazu treten aber noch andere Ur¬<lb/>
sachen, vor Allem die fortwährende Abnahme der muslimischen Bevölkerung<lb/>
durch das hier weitverbreitete Laster des Kinderabtreibens, durch die allein<lb/>
auf ihr ruhende Militärlast und durch Hungersnoth in Landstrichen, denen<lb/>
wegen Mangels an ordentlichen Straßen nicht zu helfen ist. sodaß es vor¬<lb/>
kommen konnte, daß im vorigen Jahre im Innern Kleinasiens 160,000<lb/>
Menschen verhungerten, ferner die stetige Verminderung des Wohlstandes der<lb/>
Muhamedaner, die auf die Trägheit derselben zurückzuführen ist, welche nicht<lb/>
mehr arbeitet, als unbedingt zum Erwerb des Lebensunterhalts erforderlich<lb/>
ist, die Jnsurrection in Bosnien, welche einen großen Theil der Einwohner<lb/>
dieses Vilajets über die Grenze trieb, die Ernte vernichtete und weite Land¬<lb/>
strecken veröden ließ, endlich die Einführung des neuen Tabaksreglements<lb/>
infolge deren die früher sehr einträgliche Cultur des Tabaks beinahe völlig<lb/>
aufgehört hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_624"> Die regelmäßigen und gesetzlichen Einnahmen der türkischen Großwürden¬<lb/>
träger betrugen bis vor einigen Monaten durchschnittlich vier bis fünf Mal<lb/>
so viel als die der gleichstehenden englischen Beamten, und die thatsächlichen<lb/>
Ausgaben des Hofes beliefen sich allermindestens auf das Doppelte der bud¬<lb/>
getmäßig festgestellten Voranschläge. Die gesammten Staatsschulden der<lb/>
Türkei &#x2014; im Laufe von nur 22 Jahren contrahirt &#x2014; werden aus 202,<lb/>
664, 420 Pfund Sterling (4,051, 088, 400 Mark d. M.) berechnet, von denen<lb/>
31,680,000 Pfund Sterling aus das Eisenbahnlotterie-Anlehen kommen und<lb/>
der Rest durch direct in London aufgelegte Anleihen aufgebracht worden ist.<lb/>
Von 1854 bis 1865 sind nicht weniger als 37 Millionen Pfund Sterling<lb/>
Ausgenommen worden. Seit dem Tode Aali Paschas hat man jedes Jahr<lb/>
Mindestens eine Anleihe gemacht und dadurch binnen fünf Jahren die unge¬<lb/>
heure Summe von 106,826,200 Pfund Sterling in das türkische Schuldbuch<lb/>
geschrieben, ohne daß sich dafür auch nur eine einzige productive Anlage<lb/>
nachweisen ließe.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0251] ihrer Ausführung erforderte. Der Krieg mit Rußland und verschiedene andere Umstände, vorzüglich die unaufhörlichen Kämpfe mit empörten Pro¬ vinzen, nöthigten die Pforte, ihre Abneigung vor Anleihen zurückzudrängen, und jetzt begann eine Periode rapiden finanziellen Verfalls, dem sich in den letzten fünf Jahren eine galoppirende Schwindsucht auf dem ganzen Gebiete der Volkswirthschaft beigesellte. Der Engländer Farley giebt für diese Er¬ scheinung folgende Gründe an: die ungeheure, nahezu wahnsinnige Ver¬ schwendung des Sultans Abdul Asif, die furchtbare Bedrückung der länd- lichen Bevölkerung durch unaufhörlich wechselnde Statthalter, die Entlassung der meisten europäischen sowie der unter Fuad und Aali eingesetzten recht¬ schaffnen türkischen Administrativbeamten und verschiedene Schädigungen des Handels durch unverständige Maßregeln. Dazu treten aber noch andere Ur¬ sachen, vor Allem die fortwährende Abnahme der muslimischen Bevölkerung durch das hier weitverbreitete Laster des Kinderabtreibens, durch die allein auf ihr ruhende Militärlast und durch Hungersnoth in Landstrichen, denen wegen Mangels an ordentlichen Straßen nicht zu helfen ist. sodaß es vor¬ kommen konnte, daß im vorigen Jahre im Innern Kleinasiens 160,000 Menschen verhungerten, ferner die stetige Verminderung des Wohlstandes der Muhamedaner, die auf die Trägheit derselben zurückzuführen ist, welche nicht mehr arbeitet, als unbedingt zum Erwerb des Lebensunterhalts erforderlich ist, die Jnsurrection in Bosnien, welche einen großen Theil der Einwohner dieses Vilajets über die Grenze trieb, die Ernte vernichtete und weite Land¬ strecken veröden ließ, endlich die Einführung des neuen Tabaksreglements infolge deren die früher sehr einträgliche Cultur des Tabaks beinahe völlig aufgehört hat. Die regelmäßigen und gesetzlichen Einnahmen der türkischen Großwürden¬ träger betrugen bis vor einigen Monaten durchschnittlich vier bis fünf Mal so viel als die der gleichstehenden englischen Beamten, und die thatsächlichen Ausgaben des Hofes beliefen sich allermindestens auf das Doppelte der bud¬ getmäßig festgestellten Voranschläge. Die gesammten Staatsschulden der Türkei — im Laufe von nur 22 Jahren contrahirt — werden aus 202, 664, 420 Pfund Sterling (4,051, 088, 400 Mark d. M.) berechnet, von denen 31,680,000 Pfund Sterling aus das Eisenbahnlotterie-Anlehen kommen und der Rest durch direct in London aufgelegte Anleihen aufgebracht worden ist. Von 1854 bis 1865 sind nicht weniger als 37 Millionen Pfund Sterling Ausgenommen worden. Seit dem Tode Aali Paschas hat man jedes Jahr Mindestens eine Anleihe gemacht und dadurch binnen fünf Jahren die unge¬ heure Summe von 106,826,200 Pfund Sterling in das türkische Schuldbuch geschrieben, ohne daß sich dafür auch nur eine einzige productive Anlage nachweisen ließe.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/251
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/251>, abgerufen am 27.09.2024.