Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

an. Die Muslime verhalten sich nach dem Obigen zu der Raja wie 43
zu 57. Am meisten überwiegen die Christen in den bulgarischen Vilajets
Tuna und Adrianopel und im albanesischen Vilajet Janina. Nur in 11
Sandschaks (Kreisen) der sechs Vilajets der europäischen Türkei haben die
Muhamedaner die Majorität, in den übrigen 22 bilden dieselbe die Christen,
sodaß letztere räumlich in zwei Dritteln der europäischen Türkei dominiren.

Das Getriebe des türkischen Verwaltungswesens und des Geldverkehrs
stand noch vor Kurzem in grellem Contrast zu allen europäischen Begriffen,
und Fuad's und Aali's Reformen haben darin thatsächlich wenig geändert.
Heer und Flotte bildeten bis auf die Zeit, wo die Türkei sich zu andern
Uebeln auch eine Staatsschuld auflud, fast die einzigen Lasten des großherr¬
lichen Schatzes, wenn wir die ungeheuren Summen außer Acht lassen, welche
die Hofhaltung und die Besoldungen der obersten Würdenträger verschlangen.
Sehr Bedeutendes wurde namentlich auf die Seemacht verwendet, noch
mehr für diese und die Armee verrechnet; denn vielfach hatte es bis auf
die neueste Zeit mit der Verwendung seine eigne Bewandtniß, von der die
Taschen zahlloser Lieferanten, Jnspectoren, Corpscommandanten erzählen
könnten. Fast alle übrigen Zweige des öffentlichen Dienstes waren bis in
die fünfziger Jahre und sind großentheils noch jetzt in spezieller Weise fundirt.
Namentlich gehören hierher die Moscheen, die Schulen , die Spitäler und die
milden Stiftungen der verschiedensten Arten, deren Vermögen (Wakuf) von
der Regierung schon längst eingezogen worden wäre, wenn man es dem
Volke gegenüber hätte wagen können.

Nach gemeiner türkischer Ansicht waren bis vor etwa zwanzig Jahren
die Finanzen in gutem Zustande. Die Regierung hatte consequent die von
Zeit zu Zeit wiederholten Anerbietungen fränkischer Bankiers in Betreff einer
Anleihe zurückgewiesen, indem sie im eignen Lande die Mittel zur Herbei¬
schaffung des Geldbedarfs fand, ohne lästige Verpflichtungen eingehen zu
müssen. Im Nothfall gab sie Papiergeld aus, doch hatte sie bis auf den
Krimkrieg von diesem Auskunftsmittel nur mäßig Gebrauch gemacht.

Die Finanzen würden sich damals noch besser befunden haben (freilich
auf Kosten der Volkswohlfahrt), wenn nicht zwei Reformen der ersten fünf¬
ziger Jahre stark in den großherrlichen Säckel gegriffen hätten. Die eine
bestand in der bis dahin unerhörten Anordnung, die Staatsdiener reichlich
zu bezahlen, statt, wie bis dahin, von ihnen noch ein Kaufgeld für ihre
Stellen oder einen jährlichen Tribut zu verlangen und sie dafür auf den
alten Brauch systematischer Plünderung ihrer Untergebenen und fortwährender
Unterschlagung von Steuern zu verweisen, und die zweite war die Ein-
schmelzung der umlaufenden schlechten Münzen und deren UmPrägung in
gute, eine Maßregel, die jedoch bald ruhte, da sie zu große Summen zu


an. Die Muslime verhalten sich nach dem Obigen zu der Raja wie 43
zu 57. Am meisten überwiegen die Christen in den bulgarischen Vilajets
Tuna und Adrianopel und im albanesischen Vilajet Janina. Nur in 11
Sandschaks (Kreisen) der sechs Vilajets der europäischen Türkei haben die
Muhamedaner die Majorität, in den übrigen 22 bilden dieselbe die Christen,
sodaß letztere räumlich in zwei Dritteln der europäischen Türkei dominiren.

Das Getriebe des türkischen Verwaltungswesens und des Geldverkehrs
stand noch vor Kurzem in grellem Contrast zu allen europäischen Begriffen,
und Fuad's und Aali's Reformen haben darin thatsächlich wenig geändert.
Heer und Flotte bildeten bis auf die Zeit, wo die Türkei sich zu andern
Uebeln auch eine Staatsschuld auflud, fast die einzigen Lasten des großherr¬
lichen Schatzes, wenn wir die ungeheuren Summen außer Acht lassen, welche
die Hofhaltung und die Besoldungen der obersten Würdenträger verschlangen.
Sehr Bedeutendes wurde namentlich auf die Seemacht verwendet, noch
mehr für diese und die Armee verrechnet; denn vielfach hatte es bis auf
die neueste Zeit mit der Verwendung seine eigne Bewandtniß, von der die
Taschen zahlloser Lieferanten, Jnspectoren, Corpscommandanten erzählen
könnten. Fast alle übrigen Zweige des öffentlichen Dienstes waren bis in
die fünfziger Jahre und sind großentheils noch jetzt in spezieller Weise fundirt.
Namentlich gehören hierher die Moscheen, die Schulen , die Spitäler und die
milden Stiftungen der verschiedensten Arten, deren Vermögen (Wakuf) von
der Regierung schon längst eingezogen worden wäre, wenn man es dem
Volke gegenüber hätte wagen können.

Nach gemeiner türkischer Ansicht waren bis vor etwa zwanzig Jahren
die Finanzen in gutem Zustande. Die Regierung hatte consequent die von
Zeit zu Zeit wiederholten Anerbietungen fränkischer Bankiers in Betreff einer
Anleihe zurückgewiesen, indem sie im eignen Lande die Mittel zur Herbei¬
schaffung des Geldbedarfs fand, ohne lästige Verpflichtungen eingehen zu
müssen. Im Nothfall gab sie Papiergeld aus, doch hatte sie bis auf den
Krimkrieg von diesem Auskunftsmittel nur mäßig Gebrauch gemacht.

Die Finanzen würden sich damals noch besser befunden haben (freilich
auf Kosten der Volkswohlfahrt), wenn nicht zwei Reformen der ersten fünf¬
ziger Jahre stark in den großherrlichen Säckel gegriffen hätten. Die eine
bestand in der bis dahin unerhörten Anordnung, die Staatsdiener reichlich
zu bezahlen, statt, wie bis dahin, von ihnen noch ein Kaufgeld für ihre
Stellen oder einen jährlichen Tribut zu verlangen und sie dafür auf den
alten Brauch systematischer Plünderung ihrer Untergebenen und fortwährender
Unterschlagung von Steuern zu verweisen, und die zweite war die Ein-
schmelzung der umlaufenden schlechten Münzen und deren UmPrägung in
gute, eine Maßregel, die jedoch bald ruhte, da sie zu große Summen zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0250" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136361"/>
          <p xml:id="ID_619" prev="#ID_618"> an. Die Muslime verhalten sich nach dem Obigen zu der Raja wie 43<lb/>
zu 57. Am meisten überwiegen die Christen in den bulgarischen Vilajets<lb/>
Tuna und Adrianopel und im albanesischen Vilajet Janina. Nur in 11<lb/>
Sandschaks (Kreisen) der sechs Vilajets der europäischen Türkei haben die<lb/>
Muhamedaner die Majorität, in den übrigen 22 bilden dieselbe die Christen,<lb/>
sodaß letztere räumlich in zwei Dritteln der europäischen Türkei dominiren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_620"> Das Getriebe des türkischen Verwaltungswesens und des Geldverkehrs<lb/>
stand noch vor Kurzem in grellem Contrast zu allen europäischen Begriffen,<lb/>
und Fuad's und Aali's Reformen haben darin thatsächlich wenig geändert.<lb/>
Heer und Flotte bildeten bis auf die Zeit, wo die Türkei sich zu andern<lb/>
Uebeln auch eine Staatsschuld auflud, fast die einzigen Lasten des großherr¬<lb/>
lichen Schatzes, wenn wir die ungeheuren Summen außer Acht lassen, welche<lb/>
die Hofhaltung und die Besoldungen der obersten Würdenträger verschlangen.<lb/>
Sehr Bedeutendes wurde namentlich auf die Seemacht verwendet, noch<lb/>
mehr für diese und die Armee verrechnet; denn vielfach hatte es bis auf<lb/>
die neueste Zeit mit der Verwendung seine eigne Bewandtniß, von der die<lb/>
Taschen zahlloser Lieferanten, Jnspectoren, Corpscommandanten erzählen<lb/>
könnten. Fast alle übrigen Zweige des öffentlichen Dienstes waren bis in<lb/>
die fünfziger Jahre und sind großentheils noch jetzt in spezieller Weise fundirt.<lb/>
Namentlich gehören hierher die Moscheen, die Schulen , die Spitäler und die<lb/>
milden Stiftungen der verschiedensten Arten, deren Vermögen (Wakuf) von<lb/>
der Regierung schon längst eingezogen worden wäre, wenn man es dem<lb/>
Volke gegenüber hätte wagen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_621"> Nach gemeiner türkischer Ansicht waren bis vor etwa zwanzig Jahren<lb/>
die Finanzen in gutem Zustande. Die Regierung hatte consequent die von<lb/>
Zeit zu Zeit wiederholten Anerbietungen fränkischer Bankiers in Betreff einer<lb/>
Anleihe zurückgewiesen, indem sie im eignen Lande die Mittel zur Herbei¬<lb/>
schaffung des Geldbedarfs fand, ohne lästige Verpflichtungen eingehen zu<lb/>
müssen. Im Nothfall gab sie Papiergeld aus, doch hatte sie bis auf den<lb/>
Krimkrieg von diesem Auskunftsmittel nur mäßig Gebrauch gemacht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_622" next="#ID_623"> Die Finanzen würden sich damals noch besser befunden haben (freilich<lb/>
auf Kosten der Volkswohlfahrt), wenn nicht zwei Reformen der ersten fünf¬<lb/>
ziger Jahre stark in den großherrlichen Säckel gegriffen hätten. Die eine<lb/>
bestand in der bis dahin unerhörten Anordnung, die Staatsdiener reichlich<lb/>
zu bezahlen, statt, wie bis dahin, von ihnen noch ein Kaufgeld für ihre<lb/>
Stellen oder einen jährlichen Tribut zu verlangen und sie dafür auf den<lb/>
alten Brauch systematischer Plünderung ihrer Untergebenen und fortwährender<lb/>
Unterschlagung von Steuern zu verweisen, und die zweite war die Ein-<lb/>
schmelzung der umlaufenden schlechten Münzen und deren UmPrägung in<lb/>
gute, eine Maßregel, die jedoch bald ruhte, da sie zu große Summen zu</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0250] an. Die Muslime verhalten sich nach dem Obigen zu der Raja wie 43 zu 57. Am meisten überwiegen die Christen in den bulgarischen Vilajets Tuna und Adrianopel und im albanesischen Vilajet Janina. Nur in 11 Sandschaks (Kreisen) der sechs Vilajets der europäischen Türkei haben die Muhamedaner die Majorität, in den übrigen 22 bilden dieselbe die Christen, sodaß letztere räumlich in zwei Dritteln der europäischen Türkei dominiren. Das Getriebe des türkischen Verwaltungswesens und des Geldverkehrs stand noch vor Kurzem in grellem Contrast zu allen europäischen Begriffen, und Fuad's und Aali's Reformen haben darin thatsächlich wenig geändert. Heer und Flotte bildeten bis auf die Zeit, wo die Türkei sich zu andern Uebeln auch eine Staatsschuld auflud, fast die einzigen Lasten des großherr¬ lichen Schatzes, wenn wir die ungeheuren Summen außer Acht lassen, welche die Hofhaltung und die Besoldungen der obersten Würdenträger verschlangen. Sehr Bedeutendes wurde namentlich auf die Seemacht verwendet, noch mehr für diese und die Armee verrechnet; denn vielfach hatte es bis auf die neueste Zeit mit der Verwendung seine eigne Bewandtniß, von der die Taschen zahlloser Lieferanten, Jnspectoren, Corpscommandanten erzählen könnten. Fast alle übrigen Zweige des öffentlichen Dienstes waren bis in die fünfziger Jahre und sind großentheils noch jetzt in spezieller Weise fundirt. Namentlich gehören hierher die Moscheen, die Schulen , die Spitäler und die milden Stiftungen der verschiedensten Arten, deren Vermögen (Wakuf) von der Regierung schon längst eingezogen worden wäre, wenn man es dem Volke gegenüber hätte wagen können. Nach gemeiner türkischer Ansicht waren bis vor etwa zwanzig Jahren die Finanzen in gutem Zustande. Die Regierung hatte consequent die von Zeit zu Zeit wiederholten Anerbietungen fränkischer Bankiers in Betreff einer Anleihe zurückgewiesen, indem sie im eignen Lande die Mittel zur Herbei¬ schaffung des Geldbedarfs fand, ohne lästige Verpflichtungen eingehen zu müssen. Im Nothfall gab sie Papiergeld aus, doch hatte sie bis auf den Krimkrieg von diesem Auskunftsmittel nur mäßig Gebrauch gemacht. Die Finanzen würden sich damals noch besser befunden haben (freilich auf Kosten der Volkswohlfahrt), wenn nicht zwei Reformen der ersten fünf¬ ziger Jahre stark in den großherrlichen Säckel gegriffen hätten. Die eine bestand in der bis dahin unerhörten Anordnung, die Staatsdiener reichlich zu bezahlen, statt, wie bis dahin, von ihnen noch ein Kaufgeld für ihre Stellen oder einen jährlichen Tribut zu verlangen und sie dafür auf den alten Brauch systematischer Plünderung ihrer Untergebenen und fortwährender Unterschlagung von Steuern zu verweisen, und die zweite war die Ein- schmelzung der umlaufenden schlechten Münzen und deren UmPrägung in gute, eine Maßregel, die jedoch bald ruhte, da sie zu große Summen zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/250
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/250>, abgerufen am 27.09.2024.