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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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entschiedenste Ausdruck einer solchen Eigenthümlichkeit bestand in dem Bette
des oben erwähnten fast hundertjährigen Bater Abraham, der von den Schwestern
verlangt hatte, sie sollten ihm sein Bett so machen, daß in der Mitte eine
Vertiefung wäre, die sich der Länge nach vom Kopfende bis zu der Stelle
für die Füße erstreckte. Er nannte diese Vertiefung seinen "Trog" und hielt
streng darauf, daß niemand sie glättete. Ihm seinen Trog nicht zu ver¬
derben, war alles, was er nach sechsundneunzig Jahren von der Welt ver¬
langte. Es schien nur billig, wenn man ihm seinen Wunsch gewährte.

Im Speisesaale standen zwei große Tische, einer für die Schwestern, der
andere für die Brüder -- bunte Reihe ist also ausgeschlossen. Während des
Essens herrscht, ähnlich wie in manchen katholischen Klöstern, Stillschweigen,
wohl nur, weil bei der Menge der Gäste -- Shirley hat circa 180 Be¬
wohner -- zu viel Lärm entstehen würde, wenn alle sprechen dürften. In
der Kirche gewahrte ich einen riesigen Kochofen mit allen Apparaten, welche
die verbessernde Hand der neuesten Zeit geschaffen hat. Alles war blank
geputzt und gescheuert, sauber gehalten und geruchlos. Außer großen Vor¬
rathskammern und Kellern kommen zu dieser häuslichen Einrichtung noch
ein Waschhaus und eine Milchkammer, eine Werkstätte für Frauenarbeiten
und -- unter demselben Dache mit den Wohnräumen -- ein geräumiges
Schulzimmer, wo Schwester Rosa die Kinder in den gewöhnlichen Zweigen
des amerikanischen Elementarunterrichts unterweise. Das Shcckerdorf bildet
für sich einen Schuldistrict, und seine Schule steht unter der Aufsicht des
Comite's der Townships.

Eines Tages, kurz vor unserer Abreise nach der Heimath, luden uns
die Schwestern der Office ein, einen Nachmittag bei ihnen zu verbringen und
Abends den Thee bei ihnen zu trinken. Nach dem Thee setzten wir uns zu¬
sammen in die gute Stube, und die besten Sänger der Familie erschienen
mit ihren Notenbüchern und trugen die Lieder vor, die uns bei den gottes¬
dienstlichen Versammlungen am Besten gefallen hatten. Alles geschah mit
der freundlichsten Einfachheit, und wir waren ganz bezaubert. Die meisten
von den Singenden waren junge Mädchen, die in ihren weißen Kleidern
und Gazehauben ganz allerliebst aussahen. Auch die Brüder Thomas und
Lorenzo, desgleichen Eider William waren da, und zwar in ihrem Sonntags¬
staat. Ein Lied folgte dem andern bis spät in den Abend hinein, und dann
gab es eine kleine Aufregung: die Schwester einer von den jungen Thä¬
terinnen kam mit ihrem kleinen Kinde an, um die Nacht hier zu bleiben.
Sie war eine junge und hübsche Frau, und als sie nach einer Weile bei
uns erschien, war sie ganz nach neuester Mode gekleidet und frisirt -- ganz
Chignon, Falbel und Franse, und das Kleine sah nicht weniger geputzt aus.
Es dauerte nicht lange, so saß das Kind auf dem Knie eines der Brüder


entschiedenste Ausdruck einer solchen Eigenthümlichkeit bestand in dem Bette
des oben erwähnten fast hundertjährigen Bater Abraham, der von den Schwestern
verlangt hatte, sie sollten ihm sein Bett so machen, daß in der Mitte eine
Vertiefung wäre, die sich der Länge nach vom Kopfende bis zu der Stelle
für die Füße erstreckte. Er nannte diese Vertiefung seinen „Trog" und hielt
streng darauf, daß niemand sie glättete. Ihm seinen Trog nicht zu ver¬
derben, war alles, was er nach sechsundneunzig Jahren von der Welt ver¬
langte. Es schien nur billig, wenn man ihm seinen Wunsch gewährte.

Im Speisesaale standen zwei große Tische, einer für die Schwestern, der
andere für die Brüder — bunte Reihe ist also ausgeschlossen. Während des
Essens herrscht, ähnlich wie in manchen katholischen Klöstern, Stillschweigen,
wohl nur, weil bei der Menge der Gäste — Shirley hat circa 180 Be¬
wohner — zu viel Lärm entstehen würde, wenn alle sprechen dürften. In
der Kirche gewahrte ich einen riesigen Kochofen mit allen Apparaten, welche
die verbessernde Hand der neuesten Zeit geschaffen hat. Alles war blank
geputzt und gescheuert, sauber gehalten und geruchlos. Außer großen Vor¬
rathskammern und Kellern kommen zu dieser häuslichen Einrichtung noch
ein Waschhaus und eine Milchkammer, eine Werkstätte für Frauenarbeiten
und — unter demselben Dache mit den Wohnräumen — ein geräumiges
Schulzimmer, wo Schwester Rosa die Kinder in den gewöhnlichen Zweigen
des amerikanischen Elementarunterrichts unterweise. Das Shcckerdorf bildet
für sich einen Schuldistrict, und seine Schule steht unter der Aufsicht des
Comite's der Townships.

Eines Tages, kurz vor unserer Abreise nach der Heimath, luden uns
die Schwestern der Office ein, einen Nachmittag bei ihnen zu verbringen und
Abends den Thee bei ihnen zu trinken. Nach dem Thee setzten wir uns zu¬
sammen in die gute Stube, und die besten Sänger der Familie erschienen
mit ihren Notenbüchern und trugen die Lieder vor, die uns bei den gottes¬
dienstlichen Versammlungen am Besten gefallen hatten. Alles geschah mit
der freundlichsten Einfachheit, und wir waren ganz bezaubert. Die meisten
von den Singenden waren junge Mädchen, die in ihren weißen Kleidern
und Gazehauben ganz allerliebst aussahen. Auch die Brüder Thomas und
Lorenzo, desgleichen Eider William waren da, und zwar in ihrem Sonntags¬
staat. Ein Lied folgte dem andern bis spät in den Abend hinein, und dann
gab es eine kleine Aufregung: die Schwester einer von den jungen Thä¬
terinnen kam mit ihrem kleinen Kinde an, um die Nacht hier zu bleiben.
Sie war eine junge und hübsche Frau, und als sie nach einer Weile bei
uns erschien, war sie ganz nach neuester Mode gekleidet und frisirt — ganz
Chignon, Falbel und Franse, und das Kleine sah nicht weniger geputzt aus.
Es dauerte nicht lange, so saß das Kind auf dem Knie eines der Brüder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/205>, abgerufen am 27.09.2024.