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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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und ihre Lebensweise aufgebe oder ihr Eigenthum und den Staat Ohio
räume, widrigenfalls man Gewalt brauchen werde. Die Antwort der Vor¬
steher des Shakerdorfes war mild und gelassen, aber zugleich entschieden. Sie
bemerkten den Wortführern der Gegner, daß ihr Glaube ihnen theurer als ihr
Leben sei, daß sie auf ihrem wohlerworbenen Eigenthums wohnten, und daß
Niemand auch nur den Schein des Rechtes habe, sie von diesem zu vertreiben.
Diese Erwiderung, ruhig vorgebracht und in allen Stücken begründet, wie sie
war, verfehlte ihre Wirkung um so weniger, als die Mehrzahl der Feinde
sich die Shaker ganz anders vorgestellt hatten, als sie dieselben jetzt sahen.
So zogen die Widersacher ab, ohne ihre Waffen gebraucht zu haben, und die
Heiligen von Union Village blieben nicht nur fortan unbehelligt, sondern
es gelang ihnen im Laufe der Zeit auch sowohl in Ohio als in Kentucky
neue Niederlassungen zu begründen.

Das letzte wichtige Ereigniß in der sonst ohne Aufregung verlaufenden
Geschichte der Shaker war eine allgemeine Wiederbelebung und Vervollkomm¬
nung des Glaubens, welche, vom Hauptorte der Seete im Osten ausgehend,
sich über die verschiedenen Gemeinden verbreitete, allenthalben die Seelen der¬
selben mit Engeln und andern Himmelsbewohnern in Berührung brachte und
in der Verleihung einer heiligen Rolle gipfelte, die ein neues Evangelium
enthielt. Am Morgen des 4. Mai 1842 nämlich kam zu Philemon Stewart
in New°Lebanon das Wort des Herrn und sprach: "Mache Dich aus, o du
Kleiner, und erscheine vor dem Herrn auf dem heiligen Berge. Und dort sollst
du niederknieen sieben Mal und dich tief zur Erde neigen sieben Mal; denn
der Herr hat Worte für dich, zu schreiben, und du sollst dich neben die
heilige Quelle setzen, und die Worte sollen dir offenbart werden in Feuer¬
flammen." Und Philemon that, wie ihm geboten war, und er hörte, als er
sich der Quelle näherte, das Rauschen eines gewaltigen Windes und das
Brüllen fernen Donners. Nachdem er sich aber niedergelassen, wurde Alles
still, und ein unaussprechliches Gefühl, als ob verzehrendes Feuer sein Gebein
durchlodere, erfüllte ihn. Und die Stimme des Herrn sprach, und er schrieb
und schrieb, bis endlich das seltsame, in allen Shakercolonien mit Wundern
bezeugte Opus vollendet war, welches dann in New-Lebanon unter dem Titel
Laei-LÄ a,na vivins lioll emä Look" im Druck erschien.

Fragen wir nun nach dem Bekenntniß der Shaker, so sind sie nach Busch
ein Zweig der in Amerika besonders stark und mannichfaltig vertretenen Chiliasten.
Während aber andere Zweige dieser Glaubensrichtung, zu der unter Andern
auch die Milleriten und die Mormonen zählen, auf die baldige Wiederkunft
Christi nur hoffen und das damit beginnende tausendjährige Friedensreich in
eine mehr oder minder ferne Zukunft verlegen, hat nach dem Katechismus
der Shaker die Parusie bereits stattgefunden, und sie meinen demnach schon


und ihre Lebensweise aufgebe oder ihr Eigenthum und den Staat Ohio
räume, widrigenfalls man Gewalt brauchen werde. Die Antwort der Vor¬
steher des Shakerdorfes war mild und gelassen, aber zugleich entschieden. Sie
bemerkten den Wortführern der Gegner, daß ihr Glaube ihnen theurer als ihr
Leben sei, daß sie auf ihrem wohlerworbenen Eigenthums wohnten, und daß
Niemand auch nur den Schein des Rechtes habe, sie von diesem zu vertreiben.
Diese Erwiderung, ruhig vorgebracht und in allen Stücken begründet, wie sie
war, verfehlte ihre Wirkung um so weniger, als die Mehrzahl der Feinde
sich die Shaker ganz anders vorgestellt hatten, als sie dieselben jetzt sahen.
So zogen die Widersacher ab, ohne ihre Waffen gebraucht zu haben, und die
Heiligen von Union Village blieben nicht nur fortan unbehelligt, sondern
es gelang ihnen im Laufe der Zeit auch sowohl in Ohio als in Kentucky
neue Niederlassungen zu begründen.

Das letzte wichtige Ereigniß in der sonst ohne Aufregung verlaufenden
Geschichte der Shaker war eine allgemeine Wiederbelebung und Vervollkomm¬
nung des Glaubens, welche, vom Hauptorte der Seete im Osten ausgehend,
sich über die verschiedenen Gemeinden verbreitete, allenthalben die Seelen der¬
selben mit Engeln und andern Himmelsbewohnern in Berührung brachte und
in der Verleihung einer heiligen Rolle gipfelte, die ein neues Evangelium
enthielt. Am Morgen des 4. Mai 1842 nämlich kam zu Philemon Stewart
in New°Lebanon das Wort des Herrn und sprach: „Mache Dich aus, o du
Kleiner, und erscheine vor dem Herrn auf dem heiligen Berge. Und dort sollst
du niederknieen sieben Mal und dich tief zur Erde neigen sieben Mal; denn
der Herr hat Worte für dich, zu schreiben, und du sollst dich neben die
heilige Quelle setzen, und die Worte sollen dir offenbart werden in Feuer¬
flammen." Und Philemon that, wie ihm geboten war, und er hörte, als er
sich der Quelle näherte, das Rauschen eines gewaltigen Windes und das
Brüllen fernen Donners. Nachdem er sich aber niedergelassen, wurde Alles
still, und ein unaussprechliches Gefühl, als ob verzehrendes Feuer sein Gebein
durchlodere, erfüllte ihn. Und die Stimme des Herrn sprach, und er schrieb
und schrieb, bis endlich das seltsame, in allen Shakercolonien mit Wundern
bezeugte Opus vollendet war, welches dann in New-Lebanon unter dem Titel
Laei-LÄ a,na vivins lioll emä Look" im Druck erschien.

Fragen wir nun nach dem Bekenntniß der Shaker, so sind sie nach Busch
ein Zweig der in Amerika besonders stark und mannichfaltig vertretenen Chiliasten.
Während aber andere Zweige dieser Glaubensrichtung, zu der unter Andern
auch die Milleriten und die Mormonen zählen, auf die baldige Wiederkunft
Christi nur hoffen und das damit beginnende tausendjährige Friedensreich in
eine mehr oder minder ferne Zukunft verlegen, hat nach dem Katechismus
der Shaker die Parusie bereits stattgefunden, und sie meinen demnach schon


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[0158] und ihre Lebensweise aufgebe oder ihr Eigenthum und den Staat Ohio räume, widrigenfalls man Gewalt brauchen werde. Die Antwort der Vor¬ steher des Shakerdorfes war mild und gelassen, aber zugleich entschieden. Sie bemerkten den Wortführern der Gegner, daß ihr Glaube ihnen theurer als ihr Leben sei, daß sie auf ihrem wohlerworbenen Eigenthums wohnten, und daß Niemand auch nur den Schein des Rechtes habe, sie von diesem zu vertreiben. Diese Erwiderung, ruhig vorgebracht und in allen Stücken begründet, wie sie war, verfehlte ihre Wirkung um so weniger, als die Mehrzahl der Feinde sich die Shaker ganz anders vorgestellt hatten, als sie dieselben jetzt sahen. So zogen die Widersacher ab, ohne ihre Waffen gebraucht zu haben, und die Heiligen von Union Village blieben nicht nur fortan unbehelligt, sondern es gelang ihnen im Laufe der Zeit auch sowohl in Ohio als in Kentucky neue Niederlassungen zu begründen. Das letzte wichtige Ereigniß in der sonst ohne Aufregung verlaufenden Geschichte der Shaker war eine allgemeine Wiederbelebung und Vervollkomm¬ nung des Glaubens, welche, vom Hauptorte der Seete im Osten ausgehend, sich über die verschiedenen Gemeinden verbreitete, allenthalben die Seelen der¬ selben mit Engeln und andern Himmelsbewohnern in Berührung brachte und in der Verleihung einer heiligen Rolle gipfelte, die ein neues Evangelium enthielt. Am Morgen des 4. Mai 1842 nämlich kam zu Philemon Stewart in New°Lebanon das Wort des Herrn und sprach: „Mache Dich aus, o du Kleiner, und erscheine vor dem Herrn auf dem heiligen Berge. Und dort sollst du niederknieen sieben Mal und dich tief zur Erde neigen sieben Mal; denn der Herr hat Worte für dich, zu schreiben, und du sollst dich neben die heilige Quelle setzen, und die Worte sollen dir offenbart werden in Feuer¬ flammen." Und Philemon that, wie ihm geboten war, und er hörte, als er sich der Quelle näherte, das Rauschen eines gewaltigen Windes und das Brüllen fernen Donners. Nachdem er sich aber niedergelassen, wurde Alles still, und ein unaussprechliches Gefühl, als ob verzehrendes Feuer sein Gebein durchlodere, erfüllte ihn. Und die Stimme des Herrn sprach, und er schrieb und schrieb, bis endlich das seltsame, in allen Shakercolonien mit Wundern bezeugte Opus vollendet war, welches dann in New-Lebanon unter dem Titel Laei-LÄ a,na vivins lioll emä Look" im Druck erschien. Fragen wir nun nach dem Bekenntniß der Shaker, so sind sie nach Busch ein Zweig der in Amerika besonders stark und mannichfaltig vertretenen Chiliasten. Während aber andere Zweige dieser Glaubensrichtung, zu der unter Andern auch die Milleriten und die Mormonen zählen, auf die baldige Wiederkunft Christi nur hoffen und das damit beginnende tausendjährige Friedensreich in eine mehr oder minder ferne Zukunft verlegen, hat nach dem Katechismus der Shaker die Parusie bereits stattgefunden, und sie meinen demnach schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/158>, abgerufen am 27.09.2024.