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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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wie die geschmähte Scholastik der Mittelalters. Sie streitet um spitzfindige
Begriffe, die nicht mehr und nicht weniger Sinn besitzen, als die scholastischen
Haarspaltereien."

Unsern Theils glauben wir nicht, daß die deutsche Philosophie oder die
Scholastik des Mittelalters H. v. H. sehr bedrückt habe. Er ist über den ge¬
meinen Autoritätsglauben ebenso erhaben wie über das Studium dessen, wo¬
rüber er spricht: "unberauscht von Darwinschen Glaubenssätzen, die Glaubens¬
sätze nur dann werden., wenn sie erst Wissenssätze geworden sind, hebt indeß
rücksichtslos die parteilose Forschung sich zu neuem condorgleichen Fluge empor."

Wir glauben dem condorgleichen Fluge dieses Buches auf seinen 800
Seiten nunmehr genug gefolgt zu sein. Der Verfasser schließt es mit den
Worten, die eine gewisse Berühmtheit erlangt haben: "Wenn einst die
Reaction des heißen Kernes gegen die Rinde durch gleichmäßige Abkühlung
ihr Ende erreicht, und der Angriff des Wassers und der Atmosphäre gegen
den festen Erdkörper durch chemische Verbindung und Absorption in Fesseln
gebannt ist, dann wird die ewige Ruhe des Todes und des Gleichgewichtes
über der Erde herrschen. Dann wird die Erde, ihrer Atmosphäre und Lebe¬
welt beraubt, in mondgleicher Verödung um die Sonne kreisen wie zuvor,
das Menschengeschlecht aber, seine Cultur, sein Ringen und Streben, seine
Schöpfungen und Ideale, sind gewesen. Wozu?" Nun ein Birkenwald, in
welchem die Ruthen geschnitten werden für die Leute, welche unnütze Fragen
thun, wird sich auch dann wohl noch auftreiben lassen. Zunächst beschäftigt
uns eine praktischere Frage. In einigen Jahren, wenn dieses Buch nicht
mehr durch die Reclame und die Patronage einer neumodischen orthodoxen
Coterte poussirt wird: dann werden seine Blätter, ihrer Atmosphäre und
ihrer Lesewelt beraubt in maculaturgleicher Vereinzelung kreisen und Herrn
v. Hellwald's Culturgeschichte mit ihren Dicterions und ihrem Antechrist,
ihren Neophiten und Koriphäen, ihrer Hochgläubigkeit und der Starre ihres
Princips, mit allen ihren Sprachschnitzern, Widersprüchen, Druckfehlern und
falschen Citaten ist gewesen. Wozu?

Aus diese Frage glauben wir eine befriedigende Antwort geben zu können.
Allerdings ist, wir zweifeln nicht daran, auch bei Entstehung dieses Buchs
Alles "bis in die kleinsten Einzelheiten" mit sehr natürlichen Dingen zuge-
gangen: gleichwohl möchten wir uns gestatten, dasselbe auch teleologisch auf¬
zufassen, und zu glauben, daß dieser Parodie auf deutsche Wissenschaft der
Zweck innewohnt -- das Bewußtsein braucht dabei keine Rolle zu spielen --
an einem recht augenfälligen Beispiele zu offenbaren, welch ein Gebilde her¬
auskommt, wenn Jemand eine Geschiebe der menschlichen Cultur schreibt, --
die schwierigste Aufgabe, die der Wissenschaft gestellt ist -- ohne sich vorher bei
der Instanz Raths zu erholen, welche wir abergläubischen Leute der alten


wie die geschmähte Scholastik der Mittelalters. Sie streitet um spitzfindige
Begriffe, die nicht mehr und nicht weniger Sinn besitzen, als die scholastischen
Haarspaltereien."

Unsern Theils glauben wir nicht, daß die deutsche Philosophie oder die
Scholastik des Mittelalters H. v. H. sehr bedrückt habe. Er ist über den ge¬
meinen Autoritätsglauben ebenso erhaben wie über das Studium dessen, wo¬
rüber er spricht: „unberauscht von Darwinschen Glaubenssätzen, die Glaubens¬
sätze nur dann werden., wenn sie erst Wissenssätze geworden sind, hebt indeß
rücksichtslos die parteilose Forschung sich zu neuem condorgleichen Fluge empor."

Wir glauben dem condorgleichen Fluge dieses Buches auf seinen 800
Seiten nunmehr genug gefolgt zu sein. Der Verfasser schließt es mit den
Worten, die eine gewisse Berühmtheit erlangt haben: „Wenn einst die
Reaction des heißen Kernes gegen die Rinde durch gleichmäßige Abkühlung
ihr Ende erreicht, und der Angriff des Wassers und der Atmosphäre gegen
den festen Erdkörper durch chemische Verbindung und Absorption in Fesseln
gebannt ist, dann wird die ewige Ruhe des Todes und des Gleichgewichtes
über der Erde herrschen. Dann wird die Erde, ihrer Atmosphäre und Lebe¬
welt beraubt, in mondgleicher Verödung um die Sonne kreisen wie zuvor,
das Menschengeschlecht aber, seine Cultur, sein Ringen und Streben, seine
Schöpfungen und Ideale, sind gewesen. Wozu?" Nun ein Birkenwald, in
welchem die Ruthen geschnitten werden für die Leute, welche unnütze Fragen
thun, wird sich auch dann wohl noch auftreiben lassen. Zunächst beschäftigt
uns eine praktischere Frage. In einigen Jahren, wenn dieses Buch nicht
mehr durch die Reclame und die Patronage einer neumodischen orthodoxen
Coterte poussirt wird: dann werden seine Blätter, ihrer Atmosphäre und
ihrer Lesewelt beraubt in maculaturgleicher Vereinzelung kreisen und Herrn
v. Hellwald's Culturgeschichte mit ihren Dicterions und ihrem Antechrist,
ihren Neophiten und Koriphäen, ihrer Hochgläubigkeit und der Starre ihres
Princips, mit allen ihren Sprachschnitzern, Widersprüchen, Druckfehlern und
falschen Citaten ist gewesen. Wozu?

Aus diese Frage glauben wir eine befriedigende Antwort geben zu können.
Allerdings ist, wir zweifeln nicht daran, auch bei Entstehung dieses Buchs
Alles „bis in die kleinsten Einzelheiten" mit sehr natürlichen Dingen zuge-
gangen: gleichwohl möchten wir uns gestatten, dasselbe auch teleologisch auf¬
zufassen, und zu glauben, daß dieser Parodie auf deutsche Wissenschaft der
Zweck innewohnt — das Bewußtsein braucht dabei keine Rolle zu spielen —
an einem recht augenfälligen Beispiele zu offenbaren, welch ein Gebilde her¬
auskommt, wenn Jemand eine Geschiebe der menschlichen Cultur schreibt, —
die schwierigste Aufgabe, die der Wissenschaft gestellt ist — ohne sich vorher bei
der Instanz Raths zu erholen, welche wir abergläubischen Leute der alten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/141>, abgerufen am 28.09.2024.