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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Aer holländische Klassiker "Iondel.
Von Wilhelm Otto.

Die Umgebung Amsterdams bietet wenig Naturschönheit, und von Menschen¬
hand ist auch nicht viel geschehen, die Spaziergänge des reichen und armen
Hauptstädters durch die Kunst zu verschönern. Unter den wenigen Anlagen
in der unmittelbaren Nähe der Stadt, befindet sich an deren Westseite ein
Park, der in den letzten fünfzehn Jahren angelegt wurde. In demselben
erhebt sich das Denkmal eines Mannes in sitzender Haltung, den Lorbeerkranz
auf dem Haupte. Tritt man als Fremdling in die Parkanlage und fragt
einen der Vorüberwandelnden nach dem Namen dessen, dem zu Ehren das
Denkmal errichtet wurde, so nennt man ihm den Namen: Vorbei! i.Fragt
man dann weiter nach den Thaten, den Verdiensten des Mannes, so erhält
man zur Antwort: "Wie, Ihr habt nie von dem großen Vorbei gehört,
dem ausgezeichneten Classiker, dem Dichterfürsten, dessen Ruhm nicht geringer
ist, als derjenige der großen Dichter anderer Nationen. Was Goethe und
Schiller den Deutschen, Shakespeare den Engländern, das ist Vorbei uns."
Beschämt über seine Unwissenheit nimmt man sich vor, einen gebildeten
holländischen Freund um Belehrung zu bitten. Denn für den gebildeten
Deutschen ist das Gefühl, so wenig oder vielleicht gar Nichts von der klassischen
Literatur der Niederlande zu wissen, ungemein drückend und beschämend. Man
sucht sich wohl damit zu entschuldigen, daß man der holländischen Sprache
nicht mächtig sei, aber das reicht nicht aus, diese schimpfliche Blöße unseres
Wissens zu rechtfertigen. Lesen wir den großen Vorbei doch in einer Über¬
setzung! Die Klassiker aller Nationen sind ja ins Deutsche übersetzt. Aber
in der ganzen weiten Welt suchen wir vergebens nach einer Uebersetzung der
Werke Vorbei's in irgend eine menschliche Kultursprache. Woher kommt das?
Unser Gastfreund soll uns darüber Aufschluß geben.

Man fragt ihn also nach dem Dichterfürsten; man erhält aber nur'immer
dieselbe Antwort, wie in jener Parkanlage, die nach dem Denkmal Vondels-


Grenzboten II. 1876. 1
Aer holländische Klassiker "Iondel.
Von Wilhelm Otto.

Die Umgebung Amsterdams bietet wenig Naturschönheit, und von Menschen¬
hand ist auch nicht viel geschehen, die Spaziergänge des reichen und armen
Hauptstädters durch die Kunst zu verschönern. Unter den wenigen Anlagen
in der unmittelbaren Nähe der Stadt, befindet sich an deren Westseite ein
Park, der in den letzten fünfzehn Jahren angelegt wurde. In demselben
erhebt sich das Denkmal eines Mannes in sitzender Haltung, den Lorbeerkranz
auf dem Haupte. Tritt man als Fremdling in die Parkanlage und fragt
einen der Vorüberwandelnden nach dem Namen dessen, dem zu Ehren das
Denkmal errichtet wurde, so nennt man ihm den Namen: Vorbei! i.Fragt
man dann weiter nach den Thaten, den Verdiensten des Mannes, so erhält
man zur Antwort: „Wie, Ihr habt nie von dem großen Vorbei gehört,
dem ausgezeichneten Classiker, dem Dichterfürsten, dessen Ruhm nicht geringer
ist, als derjenige der großen Dichter anderer Nationen. Was Goethe und
Schiller den Deutschen, Shakespeare den Engländern, das ist Vorbei uns."
Beschämt über seine Unwissenheit nimmt man sich vor, einen gebildeten
holländischen Freund um Belehrung zu bitten. Denn für den gebildeten
Deutschen ist das Gefühl, so wenig oder vielleicht gar Nichts von der klassischen
Literatur der Niederlande zu wissen, ungemein drückend und beschämend. Man
sucht sich wohl damit zu entschuldigen, daß man der holländischen Sprache
nicht mächtig sei, aber das reicht nicht aus, diese schimpfliche Blöße unseres
Wissens zu rechtfertigen. Lesen wir den großen Vorbei doch in einer Über¬
setzung! Die Klassiker aller Nationen sind ja ins Deutsche übersetzt. Aber
in der ganzen weiten Welt suchen wir vergebens nach einer Uebersetzung der
Werke Vorbei's in irgend eine menschliche Kultursprache. Woher kommt das?
Unser Gastfreund soll uns darüber Aufschluß geben.

Man fragt ihn also nach dem Dichterfürsten; man erhält aber nur'immer
dieselbe Antwort, wie in jener Parkanlage, die nach dem Denkmal Vondels-


Grenzboten II. 1876. 1
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[0005] Aer holländische Klassiker "Iondel. Von Wilhelm Otto. Die Umgebung Amsterdams bietet wenig Naturschönheit, und von Menschen¬ hand ist auch nicht viel geschehen, die Spaziergänge des reichen und armen Hauptstädters durch die Kunst zu verschönern. Unter den wenigen Anlagen in der unmittelbaren Nähe der Stadt, befindet sich an deren Westseite ein Park, der in den letzten fünfzehn Jahren angelegt wurde. In demselben erhebt sich das Denkmal eines Mannes in sitzender Haltung, den Lorbeerkranz auf dem Haupte. Tritt man als Fremdling in die Parkanlage und fragt einen der Vorüberwandelnden nach dem Namen dessen, dem zu Ehren das Denkmal errichtet wurde, so nennt man ihm den Namen: Vorbei! i.Fragt man dann weiter nach den Thaten, den Verdiensten des Mannes, so erhält man zur Antwort: „Wie, Ihr habt nie von dem großen Vorbei gehört, dem ausgezeichneten Classiker, dem Dichterfürsten, dessen Ruhm nicht geringer ist, als derjenige der großen Dichter anderer Nationen. Was Goethe und Schiller den Deutschen, Shakespeare den Engländern, das ist Vorbei uns." Beschämt über seine Unwissenheit nimmt man sich vor, einen gebildeten holländischen Freund um Belehrung zu bitten. Denn für den gebildeten Deutschen ist das Gefühl, so wenig oder vielleicht gar Nichts von der klassischen Literatur der Niederlande zu wissen, ungemein drückend und beschämend. Man sucht sich wohl damit zu entschuldigen, daß man der holländischen Sprache nicht mächtig sei, aber das reicht nicht aus, diese schimpfliche Blöße unseres Wissens zu rechtfertigen. Lesen wir den großen Vorbei doch in einer Über¬ setzung! Die Klassiker aller Nationen sind ja ins Deutsche übersetzt. Aber in der ganzen weiten Welt suchen wir vergebens nach einer Uebersetzung der Werke Vorbei's in irgend eine menschliche Kultursprache. Woher kommt das? Unser Gastfreund soll uns darüber Aufschluß geben. Man fragt ihn also nach dem Dichterfürsten; man erhält aber nur'immer dieselbe Antwort, wie in jener Parkanlage, die nach dem Denkmal Vondels- Grenzboten II. 1876. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/5>, abgerufen am 27.11.2024.