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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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dieses Gefühls kaum recht ermessen. Weiter nach Süden oder Osten zu ge¬
langen war unmöglich, nach Norden zurück ging überhaupt kein Zug mehr;
möglicherweise fanden es auch die Hannoveraner zweckmäßig, die Bahnver¬
bindung nördlich von Göttingen zu unterbrechen, wie es dann wirklich ge¬
schah; die Losung lautete also vorläufig: in Cassel bleiben; bis wann? das
konnte Niemand wissen. Und dazu die peinliche Ungewißheit über das
Schicksal meines Heimatlandes, von dem seit mehreren Tagen alle Nachrichten
fehlten!

Der Trost wenigstens blieb, daß Andere sich ganz in derselben Lage be¬
fanden. Da war in demselben Gasthofe ein Herr aus Magdeburg, der eine
junge Dame seiner Verwandschaft nach Baden bringen wollte und nun nicht
vorwärts zu kommen vermochte, eine amerikanische Familie, welche nach
Stuttgart strebte, Kaufleute, die nach Gießen oder Marburg wollten, eine
Familie aus Mainz, die vor der gefürchteten Belagerung geflüchtet war.
Schon hatten Reisende, die von Frankfurt hergekommen -- denn alle Zei¬
tungen fehlten -- erzählt, von Wetzlar her seien preußische Colonnen im
Anmarsch, an diesem Nachmittage seien sie bereits in Gießen gesehen worden
und ihre marschirenden Bataillone hätten die Straße nach Marburg bedeckt.")
Es war das Corps des Generals von Beyer, das da heranzog. Vor dem
Schicksale, das der hannöverschen Armee bei Göttingen drohte, schienen die
Kurhessen gesichert, da sie noch die Bahnlinie über Hanau frei hatten. An
irgendwelchen Widerstand, an Verbindung etwa mit den Hannoveranern
konnten sie in der That nicht denken. Denn der absolut ungerüstete Zustand
dieser an sich schwachen Masse mußte jedem deutlich werden, der sie auch nur
mit dem Auge des Laien sah. Zwar die Leute selbst machten den besten
Eindruck, desto weniger die Ausrüstung; es konnte in der That keinen kläg¬
licheren Anblick geben, als den dieser Räumung von Cassel, der sich auch am
Sonntage (17. Juni) unter strömendem Regen vollzog. Aus der Stadt heraus
kamen lange Züge von Geschützen, Munitions- und Krankenwagen, die Ge¬
schütze wie es schien meist von neuer Construction -- die begleitenden Sol¬
daten wenigstens wiesen auf mehrere Batterien mit Stolz als auf gezogene
hin --, die Wagen aber schwerfällig und von ehrwürdigen Alter, offenbar
durchaus nicht dazu bestimmt, noch Felddienste zu leisten. Und dazu schien
es an kriegsmäßiger Bespannung fast gänzlich zu fehlen, die meisten Fahr¬
zeuge wurden von requirirten Bauernpferden gezogen; wie wollte man denn
diese Kanonen ins Feuer bringen? Zahlreiche Gruppen der Bevölkerung sahen
stumm und finster diesem Schauspiele zu; in Göttingen hatte man die




*) v. Beyer rückte am 16. Juni ein und stand am 17. Abends schon um Kirchhain und
Neustadt, östlich von Marburg.
") 4200 Mann, divo Pferde, 1V Geschütze.

dieses Gefühls kaum recht ermessen. Weiter nach Süden oder Osten zu ge¬
langen war unmöglich, nach Norden zurück ging überhaupt kein Zug mehr;
möglicherweise fanden es auch die Hannoveraner zweckmäßig, die Bahnver¬
bindung nördlich von Göttingen zu unterbrechen, wie es dann wirklich ge¬
schah; die Losung lautete also vorläufig: in Cassel bleiben; bis wann? das
konnte Niemand wissen. Und dazu die peinliche Ungewißheit über das
Schicksal meines Heimatlandes, von dem seit mehreren Tagen alle Nachrichten
fehlten!

Der Trost wenigstens blieb, daß Andere sich ganz in derselben Lage be¬
fanden. Da war in demselben Gasthofe ein Herr aus Magdeburg, der eine
junge Dame seiner Verwandschaft nach Baden bringen wollte und nun nicht
vorwärts zu kommen vermochte, eine amerikanische Familie, welche nach
Stuttgart strebte, Kaufleute, die nach Gießen oder Marburg wollten, eine
Familie aus Mainz, die vor der gefürchteten Belagerung geflüchtet war.
Schon hatten Reisende, die von Frankfurt hergekommen — denn alle Zei¬
tungen fehlten — erzählt, von Wetzlar her seien preußische Colonnen im
Anmarsch, an diesem Nachmittage seien sie bereits in Gießen gesehen worden
und ihre marschirenden Bataillone hätten die Straße nach Marburg bedeckt.")
Es war das Corps des Generals von Beyer, das da heranzog. Vor dem
Schicksale, das der hannöverschen Armee bei Göttingen drohte, schienen die
Kurhessen gesichert, da sie noch die Bahnlinie über Hanau frei hatten. An
irgendwelchen Widerstand, an Verbindung etwa mit den Hannoveranern
konnten sie in der That nicht denken. Denn der absolut ungerüstete Zustand
dieser an sich schwachen Masse mußte jedem deutlich werden, der sie auch nur
mit dem Auge des Laien sah. Zwar die Leute selbst machten den besten
Eindruck, desto weniger die Ausrüstung; es konnte in der That keinen kläg¬
licheren Anblick geben, als den dieser Räumung von Cassel, der sich auch am
Sonntage (17. Juni) unter strömendem Regen vollzog. Aus der Stadt heraus
kamen lange Züge von Geschützen, Munitions- und Krankenwagen, die Ge¬
schütze wie es schien meist von neuer Construction — die begleitenden Sol¬
daten wenigstens wiesen auf mehrere Batterien mit Stolz als auf gezogene
hin —, die Wagen aber schwerfällig und von ehrwürdigen Alter, offenbar
durchaus nicht dazu bestimmt, noch Felddienste zu leisten. Und dazu schien
es an kriegsmäßiger Bespannung fast gänzlich zu fehlen, die meisten Fahr¬
zeuge wurden von requirirten Bauernpferden gezogen; wie wollte man denn
diese Kanonen ins Feuer bringen? Zahlreiche Gruppen der Bevölkerung sahen
stumm und finster diesem Schauspiele zu; in Göttingen hatte man die




*) v. Beyer rückte am 16. Juni ein und stand am 17. Abends schon um Kirchhain und
Neustadt, östlich von Marburg.
") 4200 Mann, divo Pferde, 1V Geschütze.
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[0482] dieses Gefühls kaum recht ermessen. Weiter nach Süden oder Osten zu ge¬ langen war unmöglich, nach Norden zurück ging überhaupt kein Zug mehr; möglicherweise fanden es auch die Hannoveraner zweckmäßig, die Bahnver¬ bindung nördlich von Göttingen zu unterbrechen, wie es dann wirklich ge¬ schah; die Losung lautete also vorläufig: in Cassel bleiben; bis wann? das konnte Niemand wissen. Und dazu die peinliche Ungewißheit über das Schicksal meines Heimatlandes, von dem seit mehreren Tagen alle Nachrichten fehlten! Der Trost wenigstens blieb, daß Andere sich ganz in derselben Lage be¬ fanden. Da war in demselben Gasthofe ein Herr aus Magdeburg, der eine junge Dame seiner Verwandschaft nach Baden bringen wollte und nun nicht vorwärts zu kommen vermochte, eine amerikanische Familie, welche nach Stuttgart strebte, Kaufleute, die nach Gießen oder Marburg wollten, eine Familie aus Mainz, die vor der gefürchteten Belagerung geflüchtet war. Schon hatten Reisende, die von Frankfurt hergekommen — denn alle Zei¬ tungen fehlten — erzählt, von Wetzlar her seien preußische Colonnen im Anmarsch, an diesem Nachmittage seien sie bereits in Gießen gesehen worden und ihre marschirenden Bataillone hätten die Straße nach Marburg bedeckt.") Es war das Corps des Generals von Beyer, das da heranzog. Vor dem Schicksale, das der hannöverschen Armee bei Göttingen drohte, schienen die Kurhessen gesichert, da sie noch die Bahnlinie über Hanau frei hatten. An irgendwelchen Widerstand, an Verbindung etwa mit den Hannoveranern konnten sie in der That nicht denken. Denn der absolut ungerüstete Zustand dieser an sich schwachen Masse mußte jedem deutlich werden, der sie auch nur mit dem Auge des Laien sah. Zwar die Leute selbst machten den besten Eindruck, desto weniger die Ausrüstung; es konnte in der That keinen kläg¬ licheren Anblick geben, als den dieser Räumung von Cassel, der sich auch am Sonntage (17. Juni) unter strömendem Regen vollzog. Aus der Stadt heraus kamen lange Züge von Geschützen, Munitions- und Krankenwagen, die Ge¬ schütze wie es schien meist von neuer Construction — die begleitenden Sol¬ daten wenigstens wiesen auf mehrere Batterien mit Stolz als auf gezogene hin —, die Wagen aber schwerfällig und von ehrwürdigen Alter, offenbar durchaus nicht dazu bestimmt, noch Felddienste zu leisten. Und dazu schien es an kriegsmäßiger Bespannung fast gänzlich zu fehlen, die meisten Fahr¬ zeuge wurden von requirirten Bauernpferden gezogen; wie wollte man denn diese Kanonen ins Feuer bringen? Zahlreiche Gruppen der Bevölkerung sahen stumm und finster diesem Schauspiele zu; in Göttingen hatte man die *) v. Beyer rückte am 16. Juni ein und stand am 17. Abends schon um Kirchhain und Neustadt, östlich von Marburg. ") 4200 Mann, divo Pferde, 1V Geschütze.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/482>, abgerufen am 27.11.2024.