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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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ganze Thalgebiet übertragen, das Kloster selbst aber lockte bald immer neue
Ansiedler herbei, das enge Dorf erwuchs zur Stadt, die sich mit Mauern gürtete
und mit ihren Rechten den Rechten des Klosters selbständig gegenübertrat.

Noch neun andere Orte hatten sich, im Thale zerstreut, gebildet und
durch eine merkwürdige Organisition, wie sie nur die Rechtsbildung des
Mittelalters aufweist, hatten sich diese mit der Stadtgemeinde verbündet und
bildeten zusammen die freie Reichsstadt Münster. Jeder Thalbewohner war
Bürger der Stadt. Der Boden, das Klima, die ganze Lage des Thals war
der Ansiedlung überaus günstig, auf den herrlichen Matten blühte Viehzucht
und Ackerbau und die prächtigen Höhen boten der Alpenwirthschaft ein reiches
Feld. So ward das Münsterthal gleichsam ein Bergidyll in all den stür¬
mischen Kämpfen und Tagen, die über das schöne Elsaß dahingegangen; in
patriarchalischer Einfachheit ward das alte Tagewerk gethan und die alte
Sitte geehrt, ja bis zum Jahre 1843 war selbst der Grundbesitz gemeinsam.

Das Münsterthal ist der Mittelpunkt für eine Reihe der herrlichsten
Ausflüge in die Vogesen. tagelang können wir hier über Wald und Höhen
ziehen, hier hat die Wanderlust der Berge ihr schönstes Ziel. Immer tiefer
führt sie uns hinein in grünes Dunkel, bald folgen wir einem schmalen
Fußpfad durchs Gehölz, bald geht der Weg durch wucherndes Haidekraut,
zwischen breiten Bergeskämmen dahin -- es ist stumme duftige Waldeinsam¬
keit, die uns umgibt. Allein nicht lange, so beginnt die Landschaft mehr
und mehr zu verwildern, graues Geröll liegt zerstreut umher, kurzes küm¬
merndes Alpengras bedeckt den Boden und weithin sichtbar überragen einzelne
verwitterte Tannen den Grat.

Wir schreiten weiter durch die Einsamkeit, da öffnet sich plötzlich ein
neues Bild. Zwischen kahlen bleichen Felsen, die fast senkrecht in die Höhe
steigen, liegt regungslos die spiegelglatte Fluth. Das ist der weiße See, ein
Ueberrest aus jenen eisigen Jahrtausenden, die einst dies Land bedeckt.

Nur ein breiter wuchtiger Felsrücken trennt seinen tiefen Kessel von
einem zweiten nicht minder tief gelegenen Becken, wo wieder die Woge herrscht.
Es ist natürlich, daß der Charakter der beiden Seen wenig verschieden ist,
aber er war es einst, als noch die finsteren urwaldstarken Tannen die Ufer
des einen bekränzten. Damals war der "schwarze See" eine Wahrheit.
Auch hier drang die Axt mit ihrer Verwüstung ein und raubte das grüne
Gehölz, daß nur die unnahbaren Felsen übrig blieben. Der Abfall derselben
gegen die Ufer ist übrigens minder steil und die Formen der Berge sind
minder grotesk, aber dennoch fühlen wir uns immer noch in echter rauher
Bergeswelt. Nur am Ausfluß des Sees werden wir ungern gemahnt, daß
die rastlose Menschenlist selbst in diese Einsamkeit emporgestiegen, denn die
Schleuse, die den Abzug des Wassers regelt, dient den Fabriken drunten im


ganze Thalgebiet übertragen, das Kloster selbst aber lockte bald immer neue
Ansiedler herbei, das enge Dorf erwuchs zur Stadt, die sich mit Mauern gürtete
und mit ihren Rechten den Rechten des Klosters selbständig gegenübertrat.

Noch neun andere Orte hatten sich, im Thale zerstreut, gebildet und
durch eine merkwürdige Organisition, wie sie nur die Rechtsbildung des
Mittelalters aufweist, hatten sich diese mit der Stadtgemeinde verbündet und
bildeten zusammen die freie Reichsstadt Münster. Jeder Thalbewohner war
Bürger der Stadt. Der Boden, das Klima, die ganze Lage des Thals war
der Ansiedlung überaus günstig, auf den herrlichen Matten blühte Viehzucht
und Ackerbau und die prächtigen Höhen boten der Alpenwirthschaft ein reiches
Feld. So ward das Münsterthal gleichsam ein Bergidyll in all den stür¬
mischen Kämpfen und Tagen, die über das schöne Elsaß dahingegangen; in
patriarchalischer Einfachheit ward das alte Tagewerk gethan und die alte
Sitte geehrt, ja bis zum Jahre 1843 war selbst der Grundbesitz gemeinsam.

Das Münsterthal ist der Mittelpunkt für eine Reihe der herrlichsten
Ausflüge in die Vogesen. tagelang können wir hier über Wald und Höhen
ziehen, hier hat die Wanderlust der Berge ihr schönstes Ziel. Immer tiefer
führt sie uns hinein in grünes Dunkel, bald folgen wir einem schmalen
Fußpfad durchs Gehölz, bald geht der Weg durch wucherndes Haidekraut,
zwischen breiten Bergeskämmen dahin — es ist stumme duftige Waldeinsam¬
keit, die uns umgibt. Allein nicht lange, so beginnt die Landschaft mehr
und mehr zu verwildern, graues Geröll liegt zerstreut umher, kurzes küm¬
merndes Alpengras bedeckt den Boden und weithin sichtbar überragen einzelne
verwitterte Tannen den Grat.

Wir schreiten weiter durch die Einsamkeit, da öffnet sich plötzlich ein
neues Bild. Zwischen kahlen bleichen Felsen, die fast senkrecht in die Höhe
steigen, liegt regungslos die spiegelglatte Fluth. Das ist der weiße See, ein
Ueberrest aus jenen eisigen Jahrtausenden, die einst dies Land bedeckt.

Nur ein breiter wuchtiger Felsrücken trennt seinen tiefen Kessel von
einem zweiten nicht minder tief gelegenen Becken, wo wieder die Woge herrscht.
Es ist natürlich, daß der Charakter der beiden Seen wenig verschieden ist,
aber er war es einst, als noch die finsteren urwaldstarken Tannen die Ufer
des einen bekränzten. Damals war der „schwarze See" eine Wahrheit.
Auch hier drang die Axt mit ihrer Verwüstung ein und raubte das grüne
Gehölz, daß nur die unnahbaren Felsen übrig blieben. Der Abfall derselben
gegen die Ufer ist übrigens minder steil und die Formen der Berge sind
minder grotesk, aber dennoch fühlen wir uns immer noch in echter rauher
Bergeswelt. Nur am Ausfluß des Sees werden wir ungern gemahnt, daß
die rastlose Menschenlist selbst in diese Einsamkeit emporgestiegen, denn die
Schleuse, die den Abzug des Wassers regelt, dient den Fabriken drunten im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/466>, abgerufen am 23.11.2024.