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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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fahrungen könnte man sich fast versucht fühlen ein Ergänzungsurtheil seiner
früheren Leipziger College" anzurufen. Allein Heinze mag mit seinen Erfah¬
rungen Recht haben. Was beweisen aber die an den juristischen Fakultäten
von Leipzig und Heidelberg von zwei Gelehrten gemachten Erfahrungen gegen
die vielen anderen Universitäten, an welchen man die Dissertation fordert,
doch wohl weil man überzeugt ist, daß sie von fleißigen Studenten sehr wohl
geliefert werden kann? Die vielen hundert jährlich erscheinenden Dissertationen
sind die beste Widerlegung der Ansichten Heinze's. Jeder Mensch von einiger
Befähigung, welcher sich wirklich in sein Studium vertieft, ist im Stande
eine billigen Anforderungen entsprechende Dissertation zu beschaffen.

Die Oeffentlichkeit des mündlichen Examens aber hat man nicht nur in
Heidelberg, sondern auch an anderen Orten, so hier. Einen besonderen Segen
kann ich dieser Einrichtung nicht nachrühmen. Wer bildet denn das Publi¬
kum zumal in einer kleinen Universitätsstadt? Im glücklichsten Falle einige
Commilitonen, nämlich bei schlechtem Wetter, falls sie nichts besseres zu thun
haben und falls der Termin zeitig genug bekannt gemacht wird. Wird
Heinze diese als competente Beurtheiler des Examens anerkennen? Ferner
braucht man doch wohl als Examinator nicht einmal über die ersten Anfangs¬
gründe hinaus zu sein, um so examiniren zu können, daß über die wirklichen
Kenntnisse des Examinanden kein Mensch, etwa den nächsten Fachgenossen
ausgenommen, ein sicheres Urtheil zu gewinnen vermag. Man braucht dann
nicht einmal leise zu sprechen. Aber gesetzt auch den Fall, es wären bei einem
bedenklichen Examen kompetente Beurtheiler zugegen und wären auf keine
Weise verhindert worden, ein sicheres Urtheil über das Geleistete zu gewinnen,
wie sollen sie ihm Ausdruck verleihen, wie ihm Geltung verschaffen? Thun
sie es ohne Menschenfurcht und ohne die leidige collegialische Rücksichtsnahme,
welche Heinze recht hoch zu stellen scheint, so setzen sie sich wo möglich noch
Beleidigungen aus. Ich kann das an einem concreten Falle illustriren.

Ganz anders bei gedruckter Dissertation. I^itterg. scripta waret. Hier
weiß jeder, woran er sich zu halten hat, wo er sein Urtheil geltend machen
kann. Durch den Druck werden alle Fachgenossen zu Richtern über die ge¬
schehene Promotion eingesetzt. Es ist dem Examinator unmöglich, mittel¬
mäßige Schüler zur Promotion zuzulassen. Freilich solche Zeiten, wie wir
sie 1876 in Gießen hatten, in welchem Decanatsjahre dreiundvierzig Doctoren
der Philosophie creirt wurden, sind dann für immer vorbei. Aber das wird
sich wohl ertragen lassen. Ließ es sich doch schon jetzt ertragen, daß weit
weniger Promotionen als vor 1862 stattfanden, vor welchem Termine man
noch weitherziger in Verleihung des Grades war als jetzt. Aber dafür wird
auch dem Schreiber dieses kein englischer Fachgenosse wieder schreiben können:


fahrungen könnte man sich fast versucht fühlen ein Ergänzungsurtheil seiner
früheren Leipziger College» anzurufen. Allein Heinze mag mit seinen Erfah¬
rungen Recht haben. Was beweisen aber die an den juristischen Fakultäten
von Leipzig und Heidelberg von zwei Gelehrten gemachten Erfahrungen gegen
die vielen anderen Universitäten, an welchen man die Dissertation fordert,
doch wohl weil man überzeugt ist, daß sie von fleißigen Studenten sehr wohl
geliefert werden kann? Die vielen hundert jährlich erscheinenden Dissertationen
sind die beste Widerlegung der Ansichten Heinze's. Jeder Mensch von einiger
Befähigung, welcher sich wirklich in sein Studium vertieft, ist im Stande
eine billigen Anforderungen entsprechende Dissertation zu beschaffen.

Die Oeffentlichkeit des mündlichen Examens aber hat man nicht nur in
Heidelberg, sondern auch an anderen Orten, so hier. Einen besonderen Segen
kann ich dieser Einrichtung nicht nachrühmen. Wer bildet denn das Publi¬
kum zumal in einer kleinen Universitätsstadt? Im glücklichsten Falle einige
Commilitonen, nämlich bei schlechtem Wetter, falls sie nichts besseres zu thun
haben und falls der Termin zeitig genug bekannt gemacht wird. Wird
Heinze diese als competente Beurtheiler des Examens anerkennen? Ferner
braucht man doch wohl als Examinator nicht einmal über die ersten Anfangs¬
gründe hinaus zu sein, um so examiniren zu können, daß über die wirklichen
Kenntnisse des Examinanden kein Mensch, etwa den nächsten Fachgenossen
ausgenommen, ein sicheres Urtheil zu gewinnen vermag. Man braucht dann
nicht einmal leise zu sprechen. Aber gesetzt auch den Fall, es wären bei einem
bedenklichen Examen kompetente Beurtheiler zugegen und wären auf keine
Weise verhindert worden, ein sicheres Urtheil über das Geleistete zu gewinnen,
wie sollen sie ihm Ausdruck verleihen, wie ihm Geltung verschaffen? Thun
sie es ohne Menschenfurcht und ohne die leidige collegialische Rücksichtsnahme,
welche Heinze recht hoch zu stellen scheint, so setzen sie sich wo möglich noch
Beleidigungen aus. Ich kann das an einem concreten Falle illustriren.

Ganz anders bei gedruckter Dissertation. I^itterg. scripta waret. Hier
weiß jeder, woran er sich zu halten hat, wo er sein Urtheil geltend machen
kann. Durch den Druck werden alle Fachgenossen zu Richtern über die ge¬
schehene Promotion eingesetzt. Es ist dem Examinator unmöglich, mittel¬
mäßige Schüler zur Promotion zuzulassen. Freilich solche Zeiten, wie wir
sie 1876 in Gießen hatten, in welchem Decanatsjahre dreiundvierzig Doctoren
der Philosophie creirt wurden, sind dann für immer vorbei. Aber das wird
sich wohl ertragen lassen. Ließ es sich doch schon jetzt ertragen, daß weit
weniger Promotionen als vor 1862 stattfanden, vor welchem Termine man
noch weitherziger in Verleihung des Grades war als jetzt. Aber dafür wird
auch dem Schreiber dieses kein englischer Fachgenosse wieder schreiben können:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/458>, abgerufen am 28.07.2024.