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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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hatte Bismarck den Krieg gegen Frankreich beschlossen, um damit aufzu¬
räumen (pour er" tenir); denn jeder Tag Waffenstillstand (Herr Tissot hat
augenscheinlich vergessen, daß Deutschland mit Frankreich in Frieden lebt)
den man Frankreich läßt, ist nach den Worten des Herrn Moltke selbst (?)
ein für Deutschland Verlorner Tag. Die Armee stand am Vorabend der
Mobilmachung, die Lokomotiven wurden schon auf einzelnen Bahnhöfen ge¬
heizt, als der Kaiser von Rußland in Berlin erschien, und alles eine andere
Gestalt annahm, denn Sedan, meint Herr Tissot bei dieser Gelegenheit, ist
für Rußland das, was Sadowa für Frankreich gewesen. Darunter soll natür¬
lich jeder Franzose verstehen, sowie Sadowa die Veranlassung war, daß
Frankreich mit Preußen in Krieg gerieth, so wird Sedan die Veranlassung
sein, daß Rußland sich mit Preußen überwirft, und dann -- ja dann ist
der so sehnlich herbeigewünschte Tag der Rache gekommen.

Dies der eigentliche Inhalt der Tissot'schen Schrift, ein Gemisch also
einseitiger Darstellung, wissentlicher Verdrehung, plumper Erfindung, dreister
Lüge und gemeiner Schmähung, wie es widerwärtiger kaum gedacht werden
kann. Fragen wir uns nun, wie hat der ehrenwerthe Verfasser es fertig
gebracht dieses Gerücht dem doch Geschmack besitzenden nicht ganz urtheils¬
losen französischen Publikum mundgerecht zu machen? Denn wenn wir auch
wissen, daß der Mensch im Allgemeinen gern dasjenige glaubt, was er
wünscht, und daß der heutige Franzose ganz im besondern sich gern in
Illusionen wiegt, so tritt doch die Absichtlichkeit und die Extravaganz in den
Tissot'schen Mittheilungen so kraß zu Tage, daß sie, so ohne allen Umschweif
gegeben, auch selbst für einen Franzosen zu starke Kost gewesen wären.

Herr Tissot wußte die Form der Reisebeschreibung zu wählen, und seine
Faseleien als weise Urtheile, als eine Frucht eigener parteiloser Beobachtung
erscheinen zu lassen, indem er sich dabei des etwas vernutzten Kunstgriffes
bediente, gerade die gewagtesten Urtheile über Deutschland Deutschen selbst in
den Mund zu legen. Die Erfindung dieser Personen ist aber eine so plumpe,
daß ein Deutscher in ihnen sofort die sonderbaren Phantasiegebilde des Herrn
Tissot erkennt, ein Franzose hingegen, der Deutschland nicht aus eigener An--
schauung kennt, mag sie immerhin für echt halten.

Das Werk des Herrn Tissot zerfällt in drei Theile. Von Paris nach
München heißt der erste, München und die Münchener der zweite, Hamburg,
Bremen, Wilhelmshafen Essen, der dritte Theil- Es würde viel zu uninteres-
sant sein, dem Herrn Verfasser auf seiner ganzen Tour zu folgen und ihm
die Albernheiten, die auf jeder Seite zu finden sind, nachzuzählen, doch wollen
to'r zur Erheiterung einige charakteristische Züge daraus hervorheben.

Herr Tissot kann es nicht abwarten, bis er die deutsche Grenze passirt
hat, um seine Galle gegen Deutschland auszuspritzen. Schon in Namür läßt


Grenzboten II. 1876. S2

hatte Bismarck den Krieg gegen Frankreich beschlossen, um damit aufzu¬
räumen (pour er» tenir); denn jeder Tag Waffenstillstand (Herr Tissot hat
augenscheinlich vergessen, daß Deutschland mit Frankreich in Frieden lebt)
den man Frankreich läßt, ist nach den Worten des Herrn Moltke selbst (?)
ein für Deutschland Verlorner Tag. Die Armee stand am Vorabend der
Mobilmachung, die Lokomotiven wurden schon auf einzelnen Bahnhöfen ge¬
heizt, als der Kaiser von Rußland in Berlin erschien, und alles eine andere
Gestalt annahm, denn Sedan, meint Herr Tissot bei dieser Gelegenheit, ist
für Rußland das, was Sadowa für Frankreich gewesen. Darunter soll natür¬
lich jeder Franzose verstehen, sowie Sadowa die Veranlassung war, daß
Frankreich mit Preußen in Krieg gerieth, so wird Sedan die Veranlassung
sein, daß Rußland sich mit Preußen überwirft, und dann — ja dann ist
der so sehnlich herbeigewünschte Tag der Rache gekommen.

Dies der eigentliche Inhalt der Tissot'schen Schrift, ein Gemisch also
einseitiger Darstellung, wissentlicher Verdrehung, plumper Erfindung, dreister
Lüge und gemeiner Schmähung, wie es widerwärtiger kaum gedacht werden
kann. Fragen wir uns nun, wie hat der ehrenwerthe Verfasser es fertig
gebracht dieses Gerücht dem doch Geschmack besitzenden nicht ganz urtheils¬
losen französischen Publikum mundgerecht zu machen? Denn wenn wir auch
wissen, daß der Mensch im Allgemeinen gern dasjenige glaubt, was er
wünscht, und daß der heutige Franzose ganz im besondern sich gern in
Illusionen wiegt, so tritt doch die Absichtlichkeit und die Extravaganz in den
Tissot'schen Mittheilungen so kraß zu Tage, daß sie, so ohne allen Umschweif
gegeben, auch selbst für einen Franzosen zu starke Kost gewesen wären.

Herr Tissot wußte die Form der Reisebeschreibung zu wählen, und seine
Faseleien als weise Urtheile, als eine Frucht eigener parteiloser Beobachtung
erscheinen zu lassen, indem er sich dabei des etwas vernutzten Kunstgriffes
bediente, gerade die gewagtesten Urtheile über Deutschland Deutschen selbst in
den Mund zu legen. Die Erfindung dieser Personen ist aber eine so plumpe,
daß ein Deutscher in ihnen sofort die sonderbaren Phantasiegebilde des Herrn
Tissot erkennt, ein Franzose hingegen, der Deutschland nicht aus eigener An--
schauung kennt, mag sie immerhin für echt halten.

Das Werk des Herrn Tissot zerfällt in drei Theile. Von Paris nach
München heißt der erste, München und die Münchener der zweite, Hamburg,
Bremen, Wilhelmshafen Essen, der dritte Theil- Es würde viel zu uninteres-
sant sein, dem Herrn Verfasser auf seiner ganzen Tour zu folgen und ihm
die Albernheiten, die auf jeder Seite zu finden sind, nachzuzählen, doch wollen
to'r zur Erheiterung einige charakteristische Züge daraus hervorheben.

Herr Tissot kann es nicht abwarten, bis er die deutsche Grenze passirt
hat, um seine Galle gegen Deutschland auszuspritzen. Schon in Namür läßt


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[0413] hatte Bismarck den Krieg gegen Frankreich beschlossen, um damit aufzu¬ räumen (pour er» tenir); denn jeder Tag Waffenstillstand (Herr Tissot hat augenscheinlich vergessen, daß Deutschland mit Frankreich in Frieden lebt) den man Frankreich läßt, ist nach den Worten des Herrn Moltke selbst (?) ein für Deutschland Verlorner Tag. Die Armee stand am Vorabend der Mobilmachung, die Lokomotiven wurden schon auf einzelnen Bahnhöfen ge¬ heizt, als der Kaiser von Rußland in Berlin erschien, und alles eine andere Gestalt annahm, denn Sedan, meint Herr Tissot bei dieser Gelegenheit, ist für Rußland das, was Sadowa für Frankreich gewesen. Darunter soll natür¬ lich jeder Franzose verstehen, sowie Sadowa die Veranlassung war, daß Frankreich mit Preußen in Krieg gerieth, so wird Sedan die Veranlassung sein, daß Rußland sich mit Preußen überwirft, und dann — ja dann ist der so sehnlich herbeigewünschte Tag der Rache gekommen. Dies der eigentliche Inhalt der Tissot'schen Schrift, ein Gemisch also einseitiger Darstellung, wissentlicher Verdrehung, plumper Erfindung, dreister Lüge und gemeiner Schmähung, wie es widerwärtiger kaum gedacht werden kann. Fragen wir uns nun, wie hat der ehrenwerthe Verfasser es fertig gebracht dieses Gerücht dem doch Geschmack besitzenden nicht ganz urtheils¬ losen französischen Publikum mundgerecht zu machen? Denn wenn wir auch wissen, daß der Mensch im Allgemeinen gern dasjenige glaubt, was er wünscht, und daß der heutige Franzose ganz im besondern sich gern in Illusionen wiegt, so tritt doch die Absichtlichkeit und die Extravaganz in den Tissot'schen Mittheilungen so kraß zu Tage, daß sie, so ohne allen Umschweif gegeben, auch selbst für einen Franzosen zu starke Kost gewesen wären. Herr Tissot wußte die Form der Reisebeschreibung zu wählen, und seine Faseleien als weise Urtheile, als eine Frucht eigener parteiloser Beobachtung erscheinen zu lassen, indem er sich dabei des etwas vernutzten Kunstgriffes bediente, gerade die gewagtesten Urtheile über Deutschland Deutschen selbst in den Mund zu legen. Die Erfindung dieser Personen ist aber eine so plumpe, daß ein Deutscher in ihnen sofort die sonderbaren Phantasiegebilde des Herrn Tissot erkennt, ein Franzose hingegen, der Deutschland nicht aus eigener An-- schauung kennt, mag sie immerhin für echt halten. Das Werk des Herrn Tissot zerfällt in drei Theile. Von Paris nach München heißt der erste, München und die Münchener der zweite, Hamburg, Bremen, Wilhelmshafen Essen, der dritte Theil- Es würde viel zu uninteres- sant sein, dem Herrn Verfasser auf seiner ganzen Tour zu folgen und ihm die Albernheiten, die auf jeder Seite zu finden sind, nachzuzählen, doch wollen to'r zur Erheiterung einige charakteristische Züge daraus hervorheben. Herr Tissot kann es nicht abwarten, bis er die deutsche Grenze passirt hat, um seine Galle gegen Deutschland auszuspritzen. Schon in Namür läßt Grenzboten II. 1876. S2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/413>, abgerufen am 24.11.2024.