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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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umhüllen versucht hat. Wir wollen nun zunächst diesen eigentlichen Inhalt
aus dem 600 Seiten zählenden Werk herausschälen.

Seite 264 wirft Mr. Tissot keck die Frage auf: Giebt es einen deutschen
National-Charakter? Er findet sich folgendermaßen mit derselben ab. "Ein
Dichter hat sich gefragt: Wo ist das deutsche Vaterland! Er hätte darauf
antworten sollen: Die Straße, wo er geboren ist. Ein Frankfurter mag
sich in Berlin oder in Brasilien niederlassen; er wird nicht zu Hause sein.
Der preußische Charakter, der jetzt in der Politik vorherrscht, ist nicht der
deutsche Charakter, denn Preußen ist keine Nation, sondern ein System. Das
Königreich Preußen, hat ein Preuße gesagt (Herr Tissot vergißt hier zu sagen,
Welcher) ist eine Art Uhrwerk, das still steht, sobald ein Rad aus seiner Lage
gebracht ist. Sobald der Mechanismus sich verwirrt, wird der gegenwärtige
Politische Charakter verschwinden. Die jetzige Lage der verschiedenen Staaten
des Reiches erinnert an Däumling und seine Brüder im Hause des Ogers."

Mr. Tissot findet sodann, daß der Unterschied zwischen den Nord- und
Süddeutschen fast so groß sei, wie zwischen den Engländern und Italienern.
Daher ist auch die Heirath, die speciell Baiern in Versailles mit Norddeutsch¬
land geschlossen hat, eine höchst unpassende politische Convenienzheirath gewesen,
die Baiern je eher je lieber ungeschehen machen möchte. Cassel ist für Herrn
Tissot eine italienische Stadt und Stuttgart kommt ihm nicht nur italienisch
sondern geradezu orientalisch vor. Warum nicht lieber spanisch? Nord¬
deutschland dagegen, fährt er fort, ist wie England ein Küstenland. Die
Sandwüsten Brandenburgs sehen einer Verlängerung des Meeresufers ähnlich,
und es steckt etwas vom Piraten im Preußen. Sein Land ist zu arm, um
ihn zu ernähren, er muß nothwendigerweise stehlen, Einfälle machen oder
auswandern. Der Krieg ist für ihn eine Industrie. Man weiß, wie er die
Devise: ol-g, et labora, übersetzt hat: Bete, arbeite und nimm. Er hat zu
allen Zeiten genommen und wird noch viel nehmen, bis endlich Europa ihm
seine ganze Gensdarmerie auf die Fersen hetzt. Der Hochmuth der Nord¬
deutschen ist ganz unerträglich, nach Mr. Tissot. "Wenn ein Preuße, sagt
er, im Süden reist, so sorgt er stets dafür, sich als Norddeutscher zu bezeichnen
und sich als solcher in das Fremdenbuch der Hotels einzutragen, um sich von
den Süddeutschen zu unterscheiden, die in seinen Augen eine sehr untergeordnete
Rasse sind. Die preußischen Touristen sind stets mit einem weißen Sonnen¬
schirm bewaffnet. Man erkennt sie daran in ganz Baiern, und für die Baiern
giebt es jetzt, nachdem sie nämlich allmälig die Furcht abgelegt haben, kein
größeres Vergnügen als diese Bettelpreußen an die Luft zu setzen, oder liorg
6es localen, wie Mr. Tissot sich ausdrückt, wohl um den Franzosen einen
^'griff von seiner gründlichen Kenntniß der deutschen Sprache beizubringen.

Wie ist es aber möglich, fragt man sich unwillkürlich, daß trotz dieser


umhüllen versucht hat. Wir wollen nun zunächst diesen eigentlichen Inhalt
aus dem 600 Seiten zählenden Werk herausschälen.

Seite 264 wirft Mr. Tissot keck die Frage auf: Giebt es einen deutschen
National-Charakter? Er findet sich folgendermaßen mit derselben ab. „Ein
Dichter hat sich gefragt: Wo ist das deutsche Vaterland! Er hätte darauf
antworten sollen: Die Straße, wo er geboren ist. Ein Frankfurter mag
sich in Berlin oder in Brasilien niederlassen; er wird nicht zu Hause sein.
Der preußische Charakter, der jetzt in der Politik vorherrscht, ist nicht der
deutsche Charakter, denn Preußen ist keine Nation, sondern ein System. Das
Königreich Preußen, hat ein Preuße gesagt (Herr Tissot vergißt hier zu sagen,
Welcher) ist eine Art Uhrwerk, das still steht, sobald ein Rad aus seiner Lage
gebracht ist. Sobald der Mechanismus sich verwirrt, wird der gegenwärtige
Politische Charakter verschwinden. Die jetzige Lage der verschiedenen Staaten
des Reiches erinnert an Däumling und seine Brüder im Hause des Ogers."

Mr. Tissot findet sodann, daß der Unterschied zwischen den Nord- und
Süddeutschen fast so groß sei, wie zwischen den Engländern und Italienern.
Daher ist auch die Heirath, die speciell Baiern in Versailles mit Norddeutsch¬
land geschlossen hat, eine höchst unpassende politische Convenienzheirath gewesen,
die Baiern je eher je lieber ungeschehen machen möchte. Cassel ist für Herrn
Tissot eine italienische Stadt und Stuttgart kommt ihm nicht nur italienisch
sondern geradezu orientalisch vor. Warum nicht lieber spanisch? Nord¬
deutschland dagegen, fährt er fort, ist wie England ein Küstenland. Die
Sandwüsten Brandenburgs sehen einer Verlängerung des Meeresufers ähnlich,
und es steckt etwas vom Piraten im Preußen. Sein Land ist zu arm, um
ihn zu ernähren, er muß nothwendigerweise stehlen, Einfälle machen oder
auswandern. Der Krieg ist für ihn eine Industrie. Man weiß, wie er die
Devise: ol-g, et labora, übersetzt hat: Bete, arbeite und nimm. Er hat zu
allen Zeiten genommen und wird noch viel nehmen, bis endlich Europa ihm
seine ganze Gensdarmerie auf die Fersen hetzt. Der Hochmuth der Nord¬
deutschen ist ganz unerträglich, nach Mr. Tissot. „Wenn ein Preuße, sagt
er, im Süden reist, so sorgt er stets dafür, sich als Norddeutscher zu bezeichnen
und sich als solcher in das Fremdenbuch der Hotels einzutragen, um sich von
den Süddeutschen zu unterscheiden, die in seinen Augen eine sehr untergeordnete
Rasse sind. Die preußischen Touristen sind stets mit einem weißen Sonnen¬
schirm bewaffnet. Man erkennt sie daran in ganz Baiern, und für die Baiern
giebt es jetzt, nachdem sie nämlich allmälig die Furcht abgelegt haben, kein
größeres Vergnügen als diese Bettelpreußen an die Luft zu setzen, oder liorg
6es localen, wie Mr. Tissot sich ausdrückt, wohl um den Franzosen einen
^'griff von seiner gründlichen Kenntniß der deutschen Sprache beizubringen.

Wie ist es aber möglich, fragt man sich unwillkürlich, daß trotz dieser


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[0407] umhüllen versucht hat. Wir wollen nun zunächst diesen eigentlichen Inhalt aus dem 600 Seiten zählenden Werk herausschälen. Seite 264 wirft Mr. Tissot keck die Frage auf: Giebt es einen deutschen National-Charakter? Er findet sich folgendermaßen mit derselben ab. „Ein Dichter hat sich gefragt: Wo ist das deutsche Vaterland! Er hätte darauf antworten sollen: Die Straße, wo er geboren ist. Ein Frankfurter mag sich in Berlin oder in Brasilien niederlassen; er wird nicht zu Hause sein. Der preußische Charakter, der jetzt in der Politik vorherrscht, ist nicht der deutsche Charakter, denn Preußen ist keine Nation, sondern ein System. Das Königreich Preußen, hat ein Preuße gesagt (Herr Tissot vergißt hier zu sagen, Welcher) ist eine Art Uhrwerk, das still steht, sobald ein Rad aus seiner Lage gebracht ist. Sobald der Mechanismus sich verwirrt, wird der gegenwärtige Politische Charakter verschwinden. Die jetzige Lage der verschiedenen Staaten des Reiches erinnert an Däumling und seine Brüder im Hause des Ogers." Mr. Tissot findet sodann, daß der Unterschied zwischen den Nord- und Süddeutschen fast so groß sei, wie zwischen den Engländern und Italienern. Daher ist auch die Heirath, die speciell Baiern in Versailles mit Norddeutsch¬ land geschlossen hat, eine höchst unpassende politische Convenienzheirath gewesen, die Baiern je eher je lieber ungeschehen machen möchte. Cassel ist für Herrn Tissot eine italienische Stadt und Stuttgart kommt ihm nicht nur italienisch sondern geradezu orientalisch vor. Warum nicht lieber spanisch? Nord¬ deutschland dagegen, fährt er fort, ist wie England ein Küstenland. Die Sandwüsten Brandenburgs sehen einer Verlängerung des Meeresufers ähnlich, und es steckt etwas vom Piraten im Preußen. Sein Land ist zu arm, um ihn zu ernähren, er muß nothwendigerweise stehlen, Einfälle machen oder auswandern. Der Krieg ist für ihn eine Industrie. Man weiß, wie er die Devise: ol-g, et labora, übersetzt hat: Bete, arbeite und nimm. Er hat zu allen Zeiten genommen und wird noch viel nehmen, bis endlich Europa ihm seine ganze Gensdarmerie auf die Fersen hetzt. Der Hochmuth der Nord¬ deutschen ist ganz unerträglich, nach Mr. Tissot. „Wenn ein Preuße, sagt er, im Süden reist, so sorgt er stets dafür, sich als Norddeutscher zu bezeichnen und sich als solcher in das Fremdenbuch der Hotels einzutragen, um sich von den Süddeutschen zu unterscheiden, die in seinen Augen eine sehr untergeordnete Rasse sind. Die preußischen Touristen sind stets mit einem weißen Sonnen¬ schirm bewaffnet. Man erkennt sie daran in ganz Baiern, und für die Baiern giebt es jetzt, nachdem sie nämlich allmälig die Furcht abgelegt haben, kein größeres Vergnügen als diese Bettelpreußen an die Luft zu setzen, oder liorg 6es localen, wie Mr. Tissot sich ausdrückt, wohl um den Franzosen einen ^'griff von seiner gründlichen Kenntniß der deutschen Sprache beizubringen. Wie ist es aber möglich, fragt man sich unwillkürlich, daß trotz dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/407>, abgerufen am 24.11.2024.