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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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dürfniß trug, der durfte religiös isolirt bleiben, brauchte Niemandem zu sagen,
was er glaube. Wer nun aber aus den als öffentliche Corporationen aufge¬
nommenen Religionsgesellschaften, nämlich der katholischen und evangelischen
Confession des Christenthums mit ihren Abzweigungen sowie aus dem Juden¬
tum nicht austreten wollte, der mußte zu einer bestimmten Gemeinde gehören
und an deren Lasten Theil nehmen. Bei den Christen gab es allerdings
eine Menge Exemtionen für Beamte, Militair u. s. w.

Bei den Juden gab es dergleichen nicht oder so viel wie nicht. Nun
hat sich die seltsame Vorstellung gebildet, die Juden seien benachtheiligt. weil
sie nicht austreten können, ohne in eine andere Religionsgemeinschaft einzu¬
treten, was von den Christen nicht verlangt werde. Wir glauben freilich,
daß diese Ungleichheit durch eine Interpretation des sogenannten Toleranz-
Gesetzes von 1847 gegenüber der Juden-Ordnung desselben Jahres sich hätte
beseitigen lassen müssen. Eine Differenz zu Ungunsten der Juden aber war
allerdings vorhanden, die sich durch Interpretation nicht hätte beseitigen lassen.
Die Gesetzgebung von 1847 stellte fest, daß Differenzen innerhalb der jüdischen
Lehre und Cultus-Ordnung wohl zur Bildung besonderer Cultusgemeinden,
aber nicht zur Verweigerung der Zahlungspflicht gegenüber den bestehenden
Hauptgemeinden berechtigen sollten. Die jetzige Gesetzvorlage nun bezweckt,
den Juden das Recht zu geben, wagen Gewissensbedenken aus einer jüdischen
Gemeinde auszutreten, die Lasten derselben nicht ferner zu theilen und doch
Jude zu bleiben. Uns erscheint dies unlogisch. Der Staat hat sich ja um
Niemandes religiöse Theoreme zu kümmern. Für ihn besteht bloß die Frage,
ob jemand zu einer Religionsgesellschaft gehört, oder im reinen Civilstand
lebt. Was geht dem Staat die Sentimentalität an, ob Jemand noch Jude
heißen will, wenn er mit keiner bestehenden jüdischen Gemeinde auskommt?
Was bedarf es dazu eines Gesetzes, um dieses Recht zu sichern? Wenn jemand
sagt, ich bin Jude trotz meiner religiösen Jsolirung, und es wird ihm nicht
geglaubt, so kann dagegen kein Gesetz helfen. Immerhin kann die neue Ge¬
setzvorlage dazu dienen, über das Recht des Juden zum Eintritt in den
reinen Civtlstand keinen Zweifel zu lassen. Ebenso über das Recht der aus¬
getretenen Juden religiöse Vereine mit Jnnehaltung der Staatsgesetze unter
irgend welchen, den Zusammenhang mit dem Judenthum andeutenden Namen
zu bilden.

Die grundsätzliche Seite ist somit klargelegt. Allein der Mensch und mit
ihm seine großen Schöpfungen. Staat und Gesellschaft, leben niemals vom
bloßen Grundsatz. Es ist also höchst nöthig, daß der Gesetzgeber fragt, was
die Einführung der Dissidenten und Freiheit dem Judenthum für Früchte
bringen wird. Da giebt es natürlich Stimmen aus dem Judenthum selbst,
welche sagen, es wird sich alles auflösen. Andere Stimmen, darunter die


dürfniß trug, der durfte religiös isolirt bleiben, brauchte Niemandem zu sagen,
was er glaube. Wer nun aber aus den als öffentliche Corporationen aufge¬
nommenen Religionsgesellschaften, nämlich der katholischen und evangelischen
Confession des Christenthums mit ihren Abzweigungen sowie aus dem Juden¬
tum nicht austreten wollte, der mußte zu einer bestimmten Gemeinde gehören
und an deren Lasten Theil nehmen. Bei den Christen gab es allerdings
eine Menge Exemtionen für Beamte, Militair u. s. w.

Bei den Juden gab es dergleichen nicht oder so viel wie nicht. Nun
hat sich die seltsame Vorstellung gebildet, die Juden seien benachtheiligt. weil
sie nicht austreten können, ohne in eine andere Religionsgemeinschaft einzu¬
treten, was von den Christen nicht verlangt werde. Wir glauben freilich,
daß diese Ungleichheit durch eine Interpretation des sogenannten Toleranz-
Gesetzes von 1847 gegenüber der Juden-Ordnung desselben Jahres sich hätte
beseitigen lassen müssen. Eine Differenz zu Ungunsten der Juden aber war
allerdings vorhanden, die sich durch Interpretation nicht hätte beseitigen lassen.
Die Gesetzgebung von 1847 stellte fest, daß Differenzen innerhalb der jüdischen
Lehre und Cultus-Ordnung wohl zur Bildung besonderer Cultusgemeinden,
aber nicht zur Verweigerung der Zahlungspflicht gegenüber den bestehenden
Hauptgemeinden berechtigen sollten. Die jetzige Gesetzvorlage nun bezweckt,
den Juden das Recht zu geben, wagen Gewissensbedenken aus einer jüdischen
Gemeinde auszutreten, die Lasten derselben nicht ferner zu theilen und doch
Jude zu bleiben. Uns erscheint dies unlogisch. Der Staat hat sich ja um
Niemandes religiöse Theoreme zu kümmern. Für ihn besteht bloß die Frage,
ob jemand zu einer Religionsgesellschaft gehört, oder im reinen Civilstand
lebt. Was geht dem Staat die Sentimentalität an, ob Jemand noch Jude
heißen will, wenn er mit keiner bestehenden jüdischen Gemeinde auskommt?
Was bedarf es dazu eines Gesetzes, um dieses Recht zu sichern? Wenn jemand
sagt, ich bin Jude trotz meiner religiösen Jsolirung, und es wird ihm nicht
geglaubt, so kann dagegen kein Gesetz helfen. Immerhin kann die neue Ge¬
setzvorlage dazu dienen, über das Recht des Juden zum Eintritt in den
reinen Civtlstand keinen Zweifel zu lassen. Ebenso über das Recht der aus¬
getretenen Juden religiöse Vereine mit Jnnehaltung der Staatsgesetze unter
irgend welchen, den Zusammenhang mit dem Judenthum andeutenden Namen
zu bilden.

Die grundsätzliche Seite ist somit klargelegt. Allein der Mensch und mit
ihm seine großen Schöpfungen. Staat und Gesellschaft, leben niemals vom
bloßen Grundsatz. Es ist also höchst nöthig, daß der Gesetzgeber fragt, was
die Einführung der Dissidenten und Freiheit dem Judenthum für Früchte
bringen wird. Da giebt es natürlich Stimmen aus dem Judenthum selbst,
welche sagen, es wird sich alles auflösen. Andere Stimmen, darunter die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/393>, abgerufen am 25.11.2024.