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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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nicht so, und in einigen Gegenden Deutschlands war, wie es scheint, noch zu
Ende des vorigen Jahrhunderts das Gegentheil von dem, was jetzt vom
Kanzelredner im Privatleben erwartet wird, nicht Ausnahme, sondern Regel.

Niemand wird leugnen können, daß unserm Volke aus den stillen Pastoren¬
häusern, namentlich aus den protestantischen, durch Rath und Ermahnung
sowie durch gutes Beispiel im Handeln und Leiden reicher Segen zugeflossen
ist. Aber dieser Stand war unter dem Papstthum tief herabgekommen, und
erst nach und nach arbeitete er sich aus der Wüstheit und dem Schmutze, in
die er in der Zeit der Reformation versunken war, soweit empor, daß die
übrige Welt sich ihn zum Muster nehmen konnte. Wie es um das Jahr
1339 mit den Geistlichen im Meißnischen, in Thüringen und in Hessen aus¬
sah -- anderwärts wird es nicht besser gewesen sein -- zeigen die von Calinich
auszugsweise mitgetheilten Berichte über die damals abgehaltenen Kirchen¬
visitationen und verschiedene ähnliche Documente. Indem Justus Jonas beim
Kurfürsten in Wittenberg baldige Vornahme einer Prüfung der Pfarrer in
Meißen auf Lehre und Wandel befürwortet, schreibt er: "Ohne groß merk¬
lichen Schaden und ohne Aergerniß kann es nit abgehen, daß so viel hundert
Papisten-Pfarrer dasitzen gesammelt, Papstes Hefe und Grundsuppe." Aehn-
lich äußert sich Dr. Cruciger über die Dorfpfarrer um Leipzig, über die große
Klage herrsche, und die nicht nur "nit deutsch taufen und nit Communion
halten" wollten, sondern auch "viel großen vorgefaßten Muthwillen trieben"-
Menius schreibt von der Visitation in Thüringen: "Ihr glaubt nicht, daß
wir hier in Herzog Heinrich's Landen so viel barsch und grob ungelehrte
Leute funden auf den Pfarren hin und wieder, welche den Kirchen sollen
vorstehen. Es sind ganz ungelehrte grobe Gesellen und dazu erzgroße Böse-
wichte und verzweifelt arge Buben, unter zweihundert kaum zehn gefunden,
die nit in öffentlicher Fornication gesessen haben und noch sitzen. Und unter
denselbigen sind noch viel, welche Eheweiber, so ihren Männern entlaufen,
bei sich haben. Etliche sind eine Zeit am Evangelium gehangen und um des
Bauches und besserer Pfarren willen abgefallen. Etzliche haben sich zu dem
Evangelio gethan und sich in den Ehestand begeben, welches sie darnach ge¬
reut, haben die Eheweiber von sich gethan, damit sie frei Pfaffenleben führen
können, und was denen zu vertrauen, ist leichtlich zu erachten." In Hessen
wird über die protestantischen Geistlichen amtlich berichtet, daß "sie sich in
ziemlicher Zahl übel halten, böses ärgerliches Leben führen, sich mit Voll¬
saufen, Spielen, Wuchern und dergleichen beladen, sich in den Zechen mit den
Leuten raufen, schlagen" u. s. w. Eine nassauische Gemeinde hatte bei der
Visitation "an Lehr und Sacramenten des Pfarrherrn keinen Mangel, allein
am Leben, daß er ein Hurer und Vollsäufer ist."

Unwissenheit der gröbsten Art, freche Unzucht und maßloses Trinken sind


nicht so, und in einigen Gegenden Deutschlands war, wie es scheint, noch zu
Ende des vorigen Jahrhunderts das Gegentheil von dem, was jetzt vom
Kanzelredner im Privatleben erwartet wird, nicht Ausnahme, sondern Regel.

Niemand wird leugnen können, daß unserm Volke aus den stillen Pastoren¬
häusern, namentlich aus den protestantischen, durch Rath und Ermahnung
sowie durch gutes Beispiel im Handeln und Leiden reicher Segen zugeflossen
ist. Aber dieser Stand war unter dem Papstthum tief herabgekommen, und
erst nach und nach arbeitete er sich aus der Wüstheit und dem Schmutze, in
die er in der Zeit der Reformation versunken war, soweit empor, daß die
übrige Welt sich ihn zum Muster nehmen konnte. Wie es um das Jahr
1339 mit den Geistlichen im Meißnischen, in Thüringen und in Hessen aus¬
sah — anderwärts wird es nicht besser gewesen sein — zeigen die von Calinich
auszugsweise mitgetheilten Berichte über die damals abgehaltenen Kirchen¬
visitationen und verschiedene ähnliche Documente. Indem Justus Jonas beim
Kurfürsten in Wittenberg baldige Vornahme einer Prüfung der Pfarrer in
Meißen auf Lehre und Wandel befürwortet, schreibt er: „Ohne groß merk¬
lichen Schaden und ohne Aergerniß kann es nit abgehen, daß so viel hundert
Papisten-Pfarrer dasitzen gesammelt, Papstes Hefe und Grundsuppe." Aehn-
lich äußert sich Dr. Cruciger über die Dorfpfarrer um Leipzig, über die große
Klage herrsche, und die nicht nur „nit deutsch taufen und nit Communion
halten" wollten, sondern auch „viel großen vorgefaßten Muthwillen trieben"-
Menius schreibt von der Visitation in Thüringen: „Ihr glaubt nicht, daß
wir hier in Herzog Heinrich's Landen so viel barsch und grob ungelehrte
Leute funden auf den Pfarren hin und wieder, welche den Kirchen sollen
vorstehen. Es sind ganz ungelehrte grobe Gesellen und dazu erzgroße Böse-
wichte und verzweifelt arge Buben, unter zweihundert kaum zehn gefunden,
die nit in öffentlicher Fornication gesessen haben und noch sitzen. Und unter
denselbigen sind noch viel, welche Eheweiber, so ihren Männern entlaufen,
bei sich haben. Etliche sind eine Zeit am Evangelium gehangen und um des
Bauches und besserer Pfarren willen abgefallen. Etzliche haben sich zu dem
Evangelio gethan und sich in den Ehestand begeben, welches sie darnach ge¬
reut, haben die Eheweiber von sich gethan, damit sie frei Pfaffenleben führen
können, und was denen zu vertrauen, ist leichtlich zu erachten." In Hessen
wird über die protestantischen Geistlichen amtlich berichtet, daß „sie sich in
ziemlicher Zahl übel halten, böses ärgerliches Leben führen, sich mit Voll¬
saufen, Spielen, Wuchern und dergleichen beladen, sich in den Zechen mit den
Leuten raufen, schlagen" u. s. w. Eine nassauische Gemeinde hatte bei der
Visitation „an Lehr und Sacramenten des Pfarrherrn keinen Mangel, allein
am Leben, daß er ein Hurer und Vollsäufer ist."

Unwissenheit der gröbsten Art, freche Unzucht und maßloses Trinken sind


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/382>, abgerufen am 27.11.2024.