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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Bis zum letzten Tage seines Lebens sah man den sechsundsiebenzigjährigen
Mann aufrecht und rüstig durch die Straßen der Stadt Leipzig wandeln;
kaum merkbar war der Rückgang seiner Kraft. Am Sonntag den 21. Mai
hatte er nach seiner täglichen Gewohnheit den Tag verbracht, die Abendmahl¬
zeit eingenommen. Dann pflegte er etwa zehn Minuten, aufrecht stehend,
am Clavier zu phantasiren. Dießmal setzte er sich auf den Clavierstuhl,
hob leise den Zeigefinger der Rechten und rief der treuen Pflegerin zu: "geben
Sie Acht". Dann spielte er dreiviertel Stunden lang eine Phantasie, welche
die Hörerin im höchsten Maße ergriff und durchdrang.

Zum letzten Mal hatte seine Seele sich ausgesprochen in jenen Harmo¬
nien, die ihm zu Gebote standen, wie selten Einem. Eine kurze Ruhepause
verbrachte er auf dem Sopha. Plötzlich sprang er auf. Ein Gehirnschlag
hatte ihn getroffen, an dessen Folgen er am 22. Mai Vormittags zehn Uhr
sanft entschlief.

Den hohen Gemeinsinn, den Albrecht sein Leben hindurch bekundet, wird
die Universität und die Stadt, welcher der edle Verstorbene seit fast vierzig
Jahren angehörte, noch in Jahrhunderten rühmen und segnen. Denn fast
sein gesäumtes selbsterworbenes Vermögen, eine ungewöhnlich große Hinter-
lassenschaft für einen deutschen Gelehrten, hat Albrecht der Stadt und
Universität Leipzig lctztwillig zugewendet.


Hans Blum.


Schön's ttterarischer Kachlaß.
Vierter Artikel.

Unserer Besprechung des II. Bandes von Schön's Denkwürdigkeiten*)
ist der III. Band sehr schnell gefolgt **). Sein Inhalt fesselt unser Interesse
in weit höherem Grade noch, als dies bei den ersten Bänden der Fall war,
so unvollkommen auch diesmal wiederum das Amt des Herausgebers geübt
worden ist.

Zunächst wird uns eine zweite Selbstbiographie Schön's geboten.
Als vor Jahresfrist der erste Band des Nachlasses den Abdruck einer unda-
tirten Autobiographie Schön's brachte, stellte ich ein doppeltes fest: 1) daß




"1 Bgl. Ur. 20 vom 12. Mai. S. 241 -- 248.
") Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön.
Zweiter Theil. Dritter Band. 55ö S. Berlin, Verlag von F. Duncker 187V.

Bis zum letzten Tage seines Lebens sah man den sechsundsiebenzigjährigen
Mann aufrecht und rüstig durch die Straßen der Stadt Leipzig wandeln;
kaum merkbar war der Rückgang seiner Kraft. Am Sonntag den 21. Mai
hatte er nach seiner täglichen Gewohnheit den Tag verbracht, die Abendmahl¬
zeit eingenommen. Dann pflegte er etwa zehn Minuten, aufrecht stehend,
am Clavier zu phantasiren. Dießmal setzte er sich auf den Clavierstuhl,
hob leise den Zeigefinger der Rechten und rief der treuen Pflegerin zu: „geben
Sie Acht". Dann spielte er dreiviertel Stunden lang eine Phantasie, welche
die Hörerin im höchsten Maße ergriff und durchdrang.

Zum letzten Mal hatte seine Seele sich ausgesprochen in jenen Harmo¬
nien, die ihm zu Gebote standen, wie selten Einem. Eine kurze Ruhepause
verbrachte er auf dem Sopha. Plötzlich sprang er auf. Ein Gehirnschlag
hatte ihn getroffen, an dessen Folgen er am 22. Mai Vormittags zehn Uhr
sanft entschlief.

Den hohen Gemeinsinn, den Albrecht sein Leben hindurch bekundet, wird
die Universität und die Stadt, welcher der edle Verstorbene seit fast vierzig
Jahren angehörte, noch in Jahrhunderten rühmen und segnen. Denn fast
sein gesäumtes selbsterworbenes Vermögen, eine ungewöhnlich große Hinter-
lassenschaft für einen deutschen Gelehrten, hat Albrecht der Stadt und
Universität Leipzig lctztwillig zugewendet.


Hans Blum.


Schön's ttterarischer Kachlaß.
Vierter Artikel.

Unserer Besprechung des II. Bandes von Schön's Denkwürdigkeiten*)
ist der III. Band sehr schnell gefolgt **). Sein Inhalt fesselt unser Interesse
in weit höherem Grade noch, als dies bei den ersten Bänden der Fall war,
so unvollkommen auch diesmal wiederum das Amt des Herausgebers geübt
worden ist.

Zunächst wird uns eine zweite Selbstbiographie Schön's geboten.
Als vor Jahresfrist der erste Band des Nachlasses den Abdruck einer unda-
tirten Autobiographie Schön's brachte, stellte ich ein doppeltes fest: 1) daß




"1 Bgl. Ur. 20 vom 12. Mai. S. 241 — 248.
") Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön.
Zweiter Theil. Dritter Band. 55ö S. Berlin, Verlag von F. Duncker 187V.
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[0372] Bis zum letzten Tage seines Lebens sah man den sechsundsiebenzigjährigen Mann aufrecht und rüstig durch die Straßen der Stadt Leipzig wandeln; kaum merkbar war der Rückgang seiner Kraft. Am Sonntag den 21. Mai hatte er nach seiner täglichen Gewohnheit den Tag verbracht, die Abendmahl¬ zeit eingenommen. Dann pflegte er etwa zehn Minuten, aufrecht stehend, am Clavier zu phantasiren. Dießmal setzte er sich auf den Clavierstuhl, hob leise den Zeigefinger der Rechten und rief der treuen Pflegerin zu: „geben Sie Acht". Dann spielte er dreiviertel Stunden lang eine Phantasie, welche die Hörerin im höchsten Maße ergriff und durchdrang. Zum letzten Mal hatte seine Seele sich ausgesprochen in jenen Harmo¬ nien, die ihm zu Gebote standen, wie selten Einem. Eine kurze Ruhepause verbrachte er auf dem Sopha. Plötzlich sprang er auf. Ein Gehirnschlag hatte ihn getroffen, an dessen Folgen er am 22. Mai Vormittags zehn Uhr sanft entschlief. Den hohen Gemeinsinn, den Albrecht sein Leben hindurch bekundet, wird die Universität und die Stadt, welcher der edle Verstorbene seit fast vierzig Jahren angehörte, noch in Jahrhunderten rühmen und segnen. Denn fast sein gesäumtes selbsterworbenes Vermögen, eine ungewöhnlich große Hinter- lassenschaft für einen deutschen Gelehrten, hat Albrecht der Stadt und Universität Leipzig lctztwillig zugewendet. Hans Blum. Schön's ttterarischer Kachlaß. Vierter Artikel. Unserer Besprechung des II. Bandes von Schön's Denkwürdigkeiten*) ist der III. Band sehr schnell gefolgt **). Sein Inhalt fesselt unser Interesse in weit höherem Grade noch, als dies bei den ersten Bänden der Fall war, so unvollkommen auch diesmal wiederum das Amt des Herausgebers geübt worden ist. Zunächst wird uns eine zweite Selbstbiographie Schön's geboten. Als vor Jahresfrist der erste Band des Nachlasses den Abdruck einer unda- tirten Autobiographie Schön's brachte, stellte ich ein doppeltes fest: 1) daß "1 Bgl. Ur. 20 vom 12. Mai. S. 241 — 248. ") Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön. Zweiter Theil. Dritter Band. 55ö S. Berlin, Verlag von F. Duncker 187V.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/372>, abgerufen am 27.11.2024.