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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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wandert. In Geroldseck sind die großen nationalen Helden des deutschen
Volkes versammelt, Ariovist und Herman, der Cheruskerfürst, Wittechind, der
kühne Sachse und Siegfried, Chrimhilden's Gatte. Keinem sterblichen Auge
sind sie sichtbar, aber in bestimmten Nächten gewahrt man wohl ihre Spur
und wenn einst die Stunde der höchsten Noth über Deutschland gekommen ist,
dann wollen sie auferstehen aus ihrer Ruhe und die Retter des Volkes werden,
unter dem sie gewandelt.

Aber auch dunklere Mythen, in denen sich nicht das Hochgefühl deutscher
Treue, sondern die Leidenschaft eines wilden Hasses verkörpert, umgeben die
Felsen von Geroldseck.

Drei Brüder, welche die beiden Schlösser und Hohbarr besaßen , lebten
seit längerer Zeit in Fehde und lange Zeit schon sann der älteste im Stillen,
wie er wohl des zweiten ledig werden möchte. Da lockte er ihn hinaus zur
Äagd, doch als er mitten im Dickicht stand, fielen zwei vermummte Knechte des
Bruders über ihn her, die ihn knebelten, und mit verbundenen Augen von
bannen führten. Dann ward er in einen tiefen Brunnen des Schlosses hin¬
abgelassen, wo ihn ein Diener nothdürftig ernährte, sein schönes Weib aber
frug auf allen Burgen des Landes an, ob Niemand ihren lieben Herrn ge¬
sehen, und tief betrübt nahm sie zuletzt das Witwenkleid.

Erst als der mörderische Bruder drei Jahre lang im heiligen Lande weilte,
Wagte es der Diener, den Unglücklichen zu befreien, und vom Gram gebleicht
kam er zurück zu den Seinen.

Doch auch derjenige, der ihm solch Leiden angethan, kehrte zurück,
^in großes Fest ward auf Höh Barr, in seinem Schloß gerüstet und alle
trafen und Herren der Nachbarschaft waren zum Willkomm geladen. Da
kam denn auch die Rede auf allerlei schlimme Thaten, und wie aus Zufall
frug ihn einer, wie man wohl Brudermord am besten strafen möge? "Solch
^nen Uebelthäter soll man durchbohren", erwiderte der Heimgekehrte mit
trotziger Stirn, der andere aber sprang auf, und stieß ihm das Schwert
ins Herz.

Auch noch ein anderer Herr von Geroldseck ward auf der Jagd gefangen.
Tagelang führten ihn die Schergen, die ihn überfallen, mit verbundenen
^ugen im Wald umher, so daß er wähnte, man habe ihn weit über die
Grenzen hinweggebracht, und das Schloß, in dessen Thurm er nun schmachtete,
^ge fern von seiner Heimath in fremden Landen. Da hörte er einst das
blasen eines mächtigen Horns, die Töne schienen ihm so so seltsam bekannt,
er hörte es wieder und abermals und frug den Wächter, wo wohl das Horn
geblasen würde und wo er selber läge. Lange hielt dieser das Geheimniß
sest, aber endlich ward es doch dem Gefangenen klar, daß er im Schlosse


Grenzboten II. 1876. 44

wandert. In Geroldseck sind die großen nationalen Helden des deutschen
Volkes versammelt, Ariovist und Herman, der Cheruskerfürst, Wittechind, der
kühne Sachse und Siegfried, Chrimhilden's Gatte. Keinem sterblichen Auge
sind sie sichtbar, aber in bestimmten Nächten gewahrt man wohl ihre Spur
und wenn einst die Stunde der höchsten Noth über Deutschland gekommen ist,
dann wollen sie auferstehen aus ihrer Ruhe und die Retter des Volkes werden,
unter dem sie gewandelt.

Aber auch dunklere Mythen, in denen sich nicht das Hochgefühl deutscher
Treue, sondern die Leidenschaft eines wilden Hasses verkörpert, umgeben die
Felsen von Geroldseck.

Drei Brüder, welche die beiden Schlösser und Hohbarr besaßen , lebten
seit längerer Zeit in Fehde und lange Zeit schon sann der älteste im Stillen,
wie er wohl des zweiten ledig werden möchte. Da lockte er ihn hinaus zur
Äagd, doch als er mitten im Dickicht stand, fielen zwei vermummte Knechte des
Bruders über ihn her, die ihn knebelten, und mit verbundenen Augen von
bannen führten. Dann ward er in einen tiefen Brunnen des Schlosses hin¬
abgelassen, wo ihn ein Diener nothdürftig ernährte, sein schönes Weib aber
frug auf allen Burgen des Landes an, ob Niemand ihren lieben Herrn ge¬
sehen, und tief betrübt nahm sie zuletzt das Witwenkleid.

Erst als der mörderische Bruder drei Jahre lang im heiligen Lande weilte,
Wagte es der Diener, den Unglücklichen zu befreien, und vom Gram gebleicht
kam er zurück zu den Seinen.

Doch auch derjenige, der ihm solch Leiden angethan, kehrte zurück,
^in großes Fest ward auf Höh Barr, in seinem Schloß gerüstet und alle
trafen und Herren der Nachbarschaft waren zum Willkomm geladen. Da
kam denn auch die Rede auf allerlei schlimme Thaten, und wie aus Zufall
frug ihn einer, wie man wohl Brudermord am besten strafen möge? „Solch
^nen Uebelthäter soll man durchbohren", erwiderte der Heimgekehrte mit
trotziger Stirn, der andere aber sprang auf, und stieß ihm das Schwert
ins Herz.

Auch noch ein anderer Herr von Geroldseck ward auf der Jagd gefangen.
Tagelang führten ihn die Schergen, die ihn überfallen, mit verbundenen
^ugen im Wald umher, so daß er wähnte, man habe ihn weit über die
Grenzen hinweggebracht, und das Schloß, in dessen Thurm er nun schmachtete,
^ge fern von seiner Heimath in fremden Landen. Da hörte er einst das
blasen eines mächtigen Horns, die Töne schienen ihm so so seltsam bekannt,
er hörte es wieder und abermals und frug den Wächter, wo wohl das Horn
geblasen würde und wo er selber läge. Lange hielt dieser das Geheimniß
sest, aber endlich ward es doch dem Gefangenen klar, daß er im Schlosse


Grenzboten II. 1876. 44
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[0349] wandert. In Geroldseck sind die großen nationalen Helden des deutschen Volkes versammelt, Ariovist und Herman, der Cheruskerfürst, Wittechind, der kühne Sachse und Siegfried, Chrimhilden's Gatte. Keinem sterblichen Auge sind sie sichtbar, aber in bestimmten Nächten gewahrt man wohl ihre Spur und wenn einst die Stunde der höchsten Noth über Deutschland gekommen ist, dann wollen sie auferstehen aus ihrer Ruhe und die Retter des Volkes werden, unter dem sie gewandelt. Aber auch dunklere Mythen, in denen sich nicht das Hochgefühl deutscher Treue, sondern die Leidenschaft eines wilden Hasses verkörpert, umgeben die Felsen von Geroldseck. Drei Brüder, welche die beiden Schlösser und Hohbarr besaßen , lebten seit längerer Zeit in Fehde und lange Zeit schon sann der älteste im Stillen, wie er wohl des zweiten ledig werden möchte. Da lockte er ihn hinaus zur Äagd, doch als er mitten im Dickicht stand, fielen zwei vermummte Knechte des Bruders über ihn her, die ihn knebelten, und mit verbundenen Augen von bannen führten. Dann ward er in einen tiefen Brunnen des Schlosses hin¬ abgelassen, wo ihn ein Diener nothdürftig ernährte, sein schönes Weib aber frug auf allen Burgen des Landes an, ob Niemand ihren lieben Herrn ge¬ sehen, und tief betrübt nahm sie zuletzt das Witwenkleid. Erst als der mörderische Bruder drei Jahre lang im heiligen Lande weilte, Wagte es der Diener, den Unglücklichen zu befreien, und vom Gram gebleicht kam er zurück zu den Seinen. Doch auch derjenige, der ihm solch Leiden angethan, kehrte zurück, ^in großes Fest ward auf Höh Barr, in seinem Schloß gerüstet und alle trafen und Herren der Nachbarschaft waren zum Willkomm geladen. Da kam denn auch die Rede auf allerlei schlimme Thaten, und wie aus Zufall frug ihn einer, wie man wohl Brudermord am besten strafen möge? „Solch ^nen Uebelthäter soll man durchbohren", erwiderte der Heimgekehrte mit trotziger Stirn, der andere aber sprang auf, und stieß ihm das Schwert ins Herz. Auch noch ein anderer Herr von Geroldseck ward auf der Jagd gefangen. Tagelang führten ihn die Schergen, die ihn überfallen, mit verbundenen ^ugen im Wald umher, so daß er wähnte, man habe ihn weit über die Grenzen hinweggebracht, und das Schloß, in dessen Thurm er nun schmachtete, ^ge fern von seiner Heimath in fremden Landen. Da hörte er einst das blasen eines mächtigen Horns, die Töne schienen ihm so so seltsam bekannt, er hörte es wieder und abermals und frug den Wächter, wo wohl das Horn geblasen würde und wo er selber läge. Lange hielt dieser das Geheimniß sest, aber endlich ward es doch dem Gefangenen klar, daß er im Schlosse Grenzboten II. 1876. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/349>, abgerufen am 27.11.2024.