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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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des Alls; wir sahen überdies wie die Perception oder Aufassung des sinnlich
materiellen Körpers abhängig ist von der appercepirenden Borstellungsmasse
über die Reinheit oder Gesetzlichkeit des Irdischen. Und so zeigt wohl gerade
die Entwicklung der Vorstellungen über die Materie entscheidend die Wahr¬
heit des Gesetzes der Apperception. Aber an allen anderen Vorstellungen,
in Theologie, Jurisprudenz, Volkswirthschaft u. s. w. ließe sich dasselbe zeigen.
Ich möchte sagen, daß dieses Gesetz der Apperception dem Gesetz der Behar¬
rung in dem mechanischen Gebiet entspricht. Wie hier eine Masse der Zeit
braucht, um in neuern Zustand überzugehen, so brauchen auch im geistigen
Leben die Vorstellungsmassen als Inhalt der Seele des Einzelnen oder des
Volkes der Zeit um in neue Bahnen geführt zu werden. Dies Gesetz ist das
konservativ erhaltende, aber auch das hemmende und verzerrende Moment
M Entwicklungsleben der Einzelnen und der Völker. Es wirkt erhaltend
durch Abwehr leichtfertiger Eindrücke, hemmend durch Zurückweisung berech,
tigter Neuheit, verzerrend durch Verschmelzung des Neuen mit dem unberech¬
tigten Alten, wie z. B. bei der Verschmelzung christlicher Idee mit der pla¬
tonischen Vorstellung von der Unreinheit irdischer Materie.

Wenn aber dieses Gesetz solche Bedeutung hat, so läßt sich wohl fragen,
wie kommt es, daß es keine Aufnahme fand, und daß bei historischen Betrach-
tungen so oft kaum eine Ahnung dieses Gesetzes sich kund giebt? Das Gesetz
der Apperception selbst ist die Ursache davon.

AIs der Darwinismus erschien, machte sich gerade der Materialismus
breit mit seinem Princip der Entwicklung des Alls aus einem einheitlichen
niederen Anfang. Die Anhänger des Idealismus aber schwelgten noch in
der Erinnerung an die Zeiten Schelling's und Hegel's, wo ebenfalls Entwicklung
des Alls aus Einem die Losung war. So fand der Darwinismus um so
leichter allseitig begeisterte Aufnahme, als sowohl im Materialismus, wie im
Idealismus appercipirend der Gedanke der Entwicklung mitwirkte. Die Er-
^ltung mußte aber eintreten als man erkannte, daß Darwin's Mittel zur
Entwicklung, der Kampf ums Dasein, die natürliche Zuchtwahl nicht aus¬
reichten. Der Idealismus aber erkaltete zuerst; hatte er doch schon seine Er->
fahrungen an der täuschenden Kraft von Schelling's Polarität, und Hegel's
Dialektik gemacht.

Als Kekule's Ansichten erschienen, gewannen sie ebenfalls unter den
Chemikern im Allgemeinen rasch Aufnahme, da die Vorstellungen von der
Basicität oder dem Werth der Säuren appercipirenden Boden bereitet hatten; und
wenn bei den Gegnern der Atome die falsche Apperception mit der Vorstellungs-
wasse von den Demokrit'schen Atomen aufhört, so wird die Anerkennung der Atome
und ihres Werthes eine allgemeine sein. Aber als Lazarus schrieb, fehlte im Gan¬
zen und Großen der appercipirende Boden. Ich rede hier weniger davon, daß


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des Alls; wir sahen überdies wie die Perception oder Aufassung des sinnlich
materiellen Körpers abhängig ist von der appercepirenden Borstellungsmasse
über die Reinheit oder Gesetzlichkeit des Irdischen. Und so zeigt wohl gerade
die Entwicklung der Vorstellungen über die Materie entscheidend die Wahr¬
heit des Gesetzes der Apperception. Aber an allen anderen Vorstellungen,
in Theologie, Jurisprudenz, Volkswirthschaft u. s. w. ließe sich dasselbe zeigen.
Ich möchte sagen, daß dieses Gesetz der Apperception dem Gesetz der Behar¬
rung in dem mechanischen Gebiet entspricht. Wie hier eine Masse der Zeit
braucht, um in neuern Zustand überzugehen, so brauchen auch im geistigen
Leben die Vorstellungsmassen als Inhalt der Seele des Einzelnen oder des
Volkes der Zeit um in neue Bahnen geführt zu werden. Dies Gesetz ist das
konservativ erhaltende, aber auch das hemmende und verzerrende Moment
M Entwicklungsleben der Einzelnen und der Völker. Es wirkt erhaltend
durch Abwehr leichtfertiger Eindrücke, hemmend durch Zurückweisung berech,
tigter Neuheit, verzerrend durch Verschmelzung des Neuen mit dem unberech¬
tigten Alten, wie z. B. bei der Verschmelzung christlicher Idee mit der pla¬
tonischen Vorstellung von der Unreinheit irdischer Materie.

Wenn aber dieses Gesetz solche Bedeutung hat, so läßt sich wohl fragen,
wie kommt es, daß es keine Aufnahme fand, und daß bei historischen Betrach-
tungen so oft kaum eine Ahnung dieses Gesetzes sich kund giebt? Das Gesetz
der Apperception selbst ist die Ursache davon.

AIs der Darwinismus erschien, machte sich gerade der Materialismus
breit mit seinem Princip der Entwicklung des Alls aus einem einheitlichen
niederen Anfang. Die Anhänger des Idealismus aber schwelgten noch in
der Erinnerung an die Zeiten Schelling's und Hegel's, wo ebenfalls Entwicklung
des Alls aus Einem die Losung war. So fand der Darwinismus um so
leichter allseitig begeisterte Aufnahme, als sowohl im Materialismus, wie im
Idealismus appercipirend der Gedanke der Entwicklung mitwirkte. Die Er-
^ltung mußte aber eintreten als man erkannte, daß Darwin's Mittel zur
Entwicklung, der Kampf ums Dasein, die natürliche Zuchtwahl nicht aus¬
reichten. Der Idealismus aber erkaltete zuerst; hatte er doch schon seine Er->
fahrungen an der täuschenden Kraft von Schelling's Polarität, und Hegel's
Dialektik gemacht.

Als Kekule's Ansichten erschienen, gewannen sie ebenfalls unter den
Chemikern im Allgemeinen rasch Aufnahme, da die Vorstellungen von der
Basicität oder dem Werth der Säuren appercipirenden Boden bereitet hatten; und
wenn bei den Gegnern der Atome die falsche Apperception mit der Vorstellungs-
wasse von den Demokrit'schen Atomen aufhört, so wird die Anerkennung der Atome
und ihres Werthes eine allgemeine sein. Aber als Lazarus schrieb, fehlte im Gan¬
zen und Großen der appercipirende Boden. Ich rede hier weniger davon, daß


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[0333] des Alls; wir sahen überdies wie die Perception oder Aufassung des sinnlich materiellen Körpers abhängig ist von der appercepirenden Borstellungsmasse über die Reinheit oder Gesetzlichkeit des Irdischen. Und so zeigt wohl gerade die Entwicklung der Vorstellungen über die Materie entscheidend die Wahr¬ heit des Gesetzes der Apperception. Aber an allen anderen Vorstellungen, in Theologie, Jurisprudenz, Volkswirthschaft u. s. w. ließe sich dasselbe zeigen. Ich möchte sagen, daß dieses Gesetz der Apperception dem Gesetz der Behar¬ rung in dem mechanischen Gebiet entspricht. Wie hier eine Masse der Zeit braucht, um in neuern Zustand überzugehen, so brauchen auch im geistigen Leben die Vorstellungsmassen als Inhalt der Seele des Einzelnen oder des Volkes der Zeit um in neue Bahnen geführt zu werden. Dies Gesetz ist das konservativ erhaltende, aber auch das hemmende und verzerrende Moment M Entwicklungsleben der Einzelnen und der Völker. Es wirkt erhaltend durch Abwehr leichtfertiger Eindrücke, hemmend durch Zurückweisung berech, tigter Neuheit, verzerrend durch Verschmelzung des Neuen mit dem unberech¬ tigten Alten, wie z. B. bei der Verschmelzung christlicher Idee mit der pla¬ tonischen Vorstellung von der Unreinheit irdischer Materie. Wenn aber dieses Gesetz solche Bedeutung hat, so läßt sich wohl fragen, wie kommt es, daß es keine Aufnahme fand, und daß bei historischen Betrach- tungen so oft kaum eine Ahnung dieses Gesetzes sich kund giebt? Das Gesetz der Apperception selbst ist die Ursache davon. AIs der Darwinismus erschien, machte sich gerade der Materialismus breit mit seinem Princip der Entwicklung des Alls aus einem einheitlichen niederen Anfang. Die Anhänger des Idealismus aber schwelgten noch in der Erinnerung an die Zeiten Schelling's und Hegel's, wo ebenfalls Entwicklung des Alls aus Einem die Losung war. So fand der Darwinismus um so leichter allseitig begeisterte Aufnahme, als sowohl im Materialismus, wie im Idealismus appercipirend der Gedanke der Entwicklung mitwirkte. Die Er- ^ltung mußte aber eintreten als man erkannte, daß Darwin's Mittel zur Entwicklung, der Kampf ums Dasein, die natürliche Zuchtwahl nicht aus¬ reichten. Der Idealismus aber erkaltete zuerst; hatte er doch schon seine Er-> fahrungen an der täuschenden Kraft von Schelling's Polarität, und Hegel's Dialektik gemacht. Als Kekule's Ansichten erschienen, gewannen sie ebenfalls unter den Chemikern im Allgemeinen rasch Aufnahme, da die Vorstellungen von der Basicität oder dem Werth der Säuren appercipirenden Boden bereitet hatten; und wenn bei den Gegnern der Atome die falsche Apperception mit der Vorstellungs- wasse von den Demokrit'schen Atomen aufhört, so wird die Anerkennung der Atome und ihres Werthes eine allgemeine sein. Aber als Lazarus schrieb, fehlte im Gan¬ zen und Großen der appercipirende Boden. Ich rede hier weniger davon, daß Grenzboten II. 187K. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/333>, abgerufen am 24.11.2024.