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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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priesen war, erscheint jetzt nur noch als Wiedererwecker einer mit dem Idea¬
lismus vergessenen Lehre, deren Begründung noch immer zu erstreben ist.

Nicht so leuchtend wie Darwin's Ruhm strahlte der ein Jahr früher
erschienene von Kekule auf; nur eigentlich bei den chemischen Fachgenossen
erwarb sich Kekule's Entdeckung Anerkennung. Doch um so sicherer steht
diese Lehre jetzt da, auch wenn sie im Einzelnen noch auszubilden ist. Der
Werth der Atome gilt als eine Thatsache der Natur, deren Berücksichtigung
dem Chemiker, wie jedem, welchem die Philosophie vor allem eine geordnete
Auffassung der Weltverhältnisse ist, zum Gesetz wurde. Indeß zu klein noch
ist die Zahl derer, welche chemischen Thatsachen Rechnung tragen, und allver¬
breitet sind Diejenigen, welche statt mit der Thatsache der Induction zu Philo¬
sophiren , ihr Vergnügen finden im Zergliedern abstracter Begriffe. Ihnen er¬
scheint es eine "Schande, noch im 19. Jahrhundert an Atome zu glauben",
und sie haben natürlich auch keinen Sinn für eine Lehre, welche mit dem
atombindenden Werth den Atomen sogar eine Natur, eine Eigenschaft, d. i.
eine Eigenart des Wirkens betlegt. Spurlos ging an solchen Denkern in
Abstractheiten Kekule's Entdeckung vorüber. Spurloser noch ging indeß in
der Welt Lazarus' Begründung des Gesetzes der Apperception vorüber. Es
ist daher nothwendig, vor dem Weitergehen den Inhalt des Gesetzes selbst
anzugeben.

Lazarus giebt sie im Leben der Seele 1. Aufl. II. S. 28 ff. Das was
wir mit den Augen gesehen, mit den Ohren gehört haben, dieses äußere sinn¬
liche Bild wird in der Seele gedacht und vorgestellt; es wird in ein inneres
Anschauungsbild verwandelt. Der Proceß ist aber nie so ganz einfach. Die
Auffassung des Bildes, welches der Seele durch die Sinnesnerven dargeboten
wird, heißt Perception. Die Aufnahme aber einer von außen gegebenen An¬
schauung in die Reihe der bereits vorhandenen und in der Seele befindlichen
ähnlichen Vorstellungen nennt man Apperception. Und da ist zu sagen: fast
jede Perception wird von einer Apperception begleitet und ergänzt; d. h. jeder
Auffassung von außen kommt eine Verbindung mit dem bereits Innern zu
Hilfe und dient zu ihrer Ergänzung. Eine Allee z. B. erscheint uns spitz
zulaufend, aber trotzdem hat Niemand einen Zweifel daran, daß die Allee in
graden Linien parallel laufe, denn der sinnliche Eindruck wird unmittelbar
durch die innere Apperception, abgelöst, d. h. durch die bereits früher gewon¬
nene berichtigte Anschauung der Sache ergänzt. Beim Lehren lesen die Ge¬
übten apvercipirend mehr als die Hälfte der Wörter aus dem Kopfe, und
kaum die Hälfte vom Blatt. Auf Apperception beruhen auch jene Sinnes¬
täuschungen, worin ein Don Quixote in den Windmühlflügeln geschwungene
Schwerter von Riesen, oder hinter den Staubwolken einer Schafheerde ein
Kriegsheer erblickt.


priesen war, erscheint jetzt nur noch als Wiedererwecker einer mit dem Idea¬
lismus vergessenen Lehre, deren Begründung noch immer zu erstreben ist.

Nicht so leuchtend wie Darwin's Ruhm strahlte der ein Jahr früher
erschienene von Kekule auf; nur eigentlich bei den chemischen Fachgenossen
erwarb sich Kekule's Entdeckung Anerkennung. Doch um so sicherer steht
diese Lehre jetzt da, auch wenn sie im Einzelnen noch auszubilden ist. Der
Werth der Atome gilt als eine Thatsache der Natur, deren Berücksichtigung
dem Chemiker, wie jedem, welchem die Philosophie vor allem eine geordnete
Auffassung der Weltverhältnisse ist, zum Gesetz wurde. Indeß zu klein noch
ist die Zahl derer, welche chemischen Thatsachen Rechnung tragen, und allver¬
breitet sind Diejenigen, welche statt mit der Thatsache der Induction zu Philo¬
sophiren , ihr Vergnügen finden im Zergliedern abstracter Begriffe. Ihnen er¬
scheint es eine „Schande, noch im 19. Jahrhundert an Atome zu glauben",
und sie haben natürlich auch keinen Sinn für eine Lehre, welche mit dem
atombindenden Werth den Atomen sogar eine Natur, eine Eigenschaft, d. i.
eine Eigenart des Wirkens betlegt. Spurlos ging an solchen Denkern in
Abstractheiten Kekule's Entdeckung vorüber. Spurloser noch ging indeß in
der Welt Lazarus' Begründung des Gesetzes der Apperception vorüber. Es
ist daher nothwendig, vor dem Weitergehen den Inhalt des Gesetzes selbst
anzugeben.

Lazarus giebt sie im Leben der Seele 1. Aufl. II. S. 28 ff. Das was
wir mit den Augen gesehen, mit den Ohren gehört haben, dieses äußere sinn¬
liche Bild wird in der Seele gedacht und vorgestellt; es wird in ein inneres
Anschauungsbild verwandelt. Der Proceß ist aber nie so ganz einfach. Die
Auffassung des Bildes, welches der Seele durch die Sinnesnerven dargeboten
wird, heißt Perception. Die Aufnahme aber einer von außen gegebenen An¬
schauung in die Reihe der bereits vorhandenen und in der Seele befindlichen
ähnlichen Vorstellungen nennt man Apperception. Und da ist zu sagen: fast
jede Perception wird von einer Apperception begleitet und ergänzt; d. h. jeder
Auffassung von außen kommt eine Verbindung mit dem bereits Innern zu
Hilfe und dient zu ihrer Ergänzung. Eine Allee z. B. erscheint uns spitz
zulaufend, aber trotzdem hat Niemand einen Zweifel daran, daß die Allee in
graden Linien parallel laufe, denn der sinnliche Eindruck wird unmittelbar
durch die innere Apperception, abgelöst, d. h. durch die bereits früher gewon¬
nene berichtigte Anschauung der Sache ergänzt. Beim Lehren lesen die Ge¬
übten apvercipirend mehr als die Hälfte der Wörter aus dem Kopfe, und
kaum die Hälfte vom Blatt. Auf Apperception beruhen auch jene Sinnes¬
täuschungen, worin ein Don Quixote in den Windmühlflügeln geschwungene
Schwerter von Riesen, oder hinter den Staubwolken einer Schafheerde ein
Kriegsheer erblickt.


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[0326] priesen war, erscheint jetzt nur noch als Wiedererwecker einer mit dem Idea¬ lismus vergessenen Lehre, deren Begründung noch immer zu erstreben ist. Nicht so leuchtend wie Darwin's Ruhm strahlte der ein Jahr früher erschienene von Kekule auf; nur eigentlich bei den chemischen Fachgenossen erwarb sich Kekule's Entdeckung Anerkennung. Doch um so sicherer steht diese Lehre jetzt da, auch wenn sie im Einzelnen noch auszubilden ist. Der Werth der Atome gilt als eine Thatsache der Natur, deren Berücksichtigung dem Chemiker, wie jedem, welchem die Philosophie vor allem eine geordnete Auffassung der Weltverhältnisse ist, zum Gesetz wurde. Indeß zu klein noch ist die Zahl derer, welche chemischen Thatsachen Rechnung tragen, und allver¬ breitet sind Diejenigen, welche statt mit der Thatsache der Induction zu Philo¬ sophiren , ihr Vergnügen finden im Zergliedern abstracter Begriffe. Ihnen er¬ scheint es eine „Schande, noch im 19. Jahrhundert an Atome zu glauben", und sie haben natürlich auch keinen Sinn für eine Lehre, welche mit dem atombindenden Werth den Atomen sogar eine Natur, eine Eigenschaft, d. i. eine Eigenart des Wirkens betlegt. Spurlos ging an solchen Denkern in Abstractheiten Kekule's Entdeckung vorüber. Spurloser noch ging indeß in der Welt Lazarus' Begründung des Gesetzes der Apperception vorüber. Es ist daher nothwendig, vor dem Weitergehen den Inhalt des Gesetzes selbst anzugeben. Lazarus giebt sie im Leben der Seele 1. Aufl. II. S. 28 ff. Das was wir mit den Augen gesehen, mit den Ohren gehört haben, dieses äußere sinn¬ liche Bild wird in der Seele gedacht und vorgestellt; es wird in ein inneres Anschauungsbild verwandelt. Der Proceß ist aber nie so ganz einfach. Die Auffassung des Bildes, welches der Seele durch die Sinnesnerven dargeboten wird, heißt Perception. Die Aufnahme aber einer von außen gegebenen An¬ schauung in die Reihe der bereits vorhandenen und in der Seele befindlichen ähnlichen Vorstellungen nennt man Apperception. Und da ist zu sagen: fast jede Perception wird von einer Apperception begleitet und ergänzt; d. h. jeder Auffassung von außen kommt eine Verbindung mit dem bereits Innern zu Hilfe und dient zu ihrer Ergänzung. Eine Allee z. B. erscheint uns spitz zulaufend, aber trotzdem hat Niemand einen Zweifel daran, daß die Allee in graden Linien parallel laufe, denn der sinnliche Eindruck wird unmittelbar durch die innere Apperception, abgelöst, d. h. durch die bereits früher gewon¬ nene berichtigte Anschauung der Sache ergänzt. Beim Lehren lesen die Ge¬ übten apvercipirend mehr als die Hälfte der Wörter aus dem Kopfe, und kaum die Hälfte vom Blatt. Auf Apperception beruhen auch jene Sinnes¬ täuschungen, worin ein Don Quixote in den Windmühlflügeln geschwungene Schwerter von Riesen, oder hinter den Staubwolken einer Schafheerde ein Kriegsheer erblickt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/326>, abgerufen am 27.11.2024.