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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Lazarus' Leben der Seele.
Das Gesetz der Apperception.
Von Dr. L. Weis.

Eine reiche Zeit für die Wissenschaft ist das Ende der fünfziger Jahre.
1857 brachte mit Lazarus' "Leben der Seele" das Gesetz der Apperception.
1858 begründete Kekule die Vierwerthigkeit des Kohlenstoffs und gab damit
den Schlußstein zu seinem Gesetze vom Werth der Atome. 1859 erschien
Darwin's Entstehung der Arten mit den Lehren vom Kampf ums Dasein
Und von der natürlichen Zuchtwahl. Diesen letztgekommenen Lehren ward
die glänzendste Aufnahme. Kein Gebildeter durfte es wagen Unkenntniß der¬
selben zu zeigen. Aber je rascher der Glanz, um so rascher das Dunkel.
Nicht freilich, als ob der Darwinismus überhaupt in Vergessenheit gerathen
sei oder zu gerathen hätte. Unverkümmert vielmehr wird ihm für alle Zeit
das Verdienst bleiben, die wissenschaftliche Forschung wieder in das Fahr¬
wasser der Speculation und Philosophie gedrängt zu haben. Indessen grade
das, was den Darwinismus zuerst so berühmt machte: die Lehre vom Kampf,
ums Dasein und die natürliche Zuchtwahl, das ist es, was schon nach etwa
Zwanzig Jahren nur sehr untergeordneten Werth behalten hat, während das
am Darwinismus als werthvoll Festgehaltene, das Princip der Entwicklung,
immer mehr als etwas Altes erkannt wird, als ein der deutschen Philosophie
urwüchsiger Gedanke. Und je mehr grade neuerdings die Eiferer für den
Darwinismus zur Rechtfertigung ihrer Anschauung darauf hinweisen, daß bereits
Leibnitz, Herder, Kant, Goethe, Schelling, Ocker u. s. w. denselben Gedanken,
den der Entwicklung der Vielheit aus dem Einen, gehabt hätten, je mehr diese
Eiferer den Namen Darwinismus verwerfen und den Namen Descendenz¬
lehre an die Stelle setzen, eben weil die anfängliche Begründung der Entwick¬
lung durch Darwin als ungenügend erkannt sei: destomehr verdunkeln diese
Eiferer selbst den Ruhm Darwin's und zünden das Licht des deutschen Idealis¬
mus wieder an. Denn Darwin, der als Bringer eines positiven Gesetzes ge-


Grenzboten II. 1876. 41
Lazarus' Leben der Seele.
Das Gesetz der Apperception.
Von Dr. L. Weis.

Eine reiche Zeit für die Wissenschaft ist das Ende der fünfziger Jahre.
1857 brachte mit Lazarus' „Leben der Seele" das Gesetz der Apperception.
1858 begründete Kekule die Vierwerthigkeit des Kohlenstoffs und gab damit
den Schlußstein zu seinem Gesetze vom Werth der Atome. 1859 erschien
Darwin's Entstehung der Arten mit den Lehren vom Kampf ums Dasein
Und von der natürlichen Zuchtwahl. Diesen letztgekommenen Lehren ward
die glänzendste Aufnahme. Kein Gebildeter durfte es wagen Unkenntniß der¬
selben zu zeigen. Aber je rascher der Glanz, um so rascher das Dunkel.
Nicht freilich, als ob der Darwinismus überhaupt in Vergessenheit gerathen
sei oder zu gerathen hätte. Unverkümmert vielmehr wird ihm für alle Zeit
das Verdienst bleiben, die wissenschaftliche Forschung wieder in das Fahr¬
wasser der Speculation und Philosophie gedrängt zu haben. Indessen grade
das, was den Darwinismus zuerst so berühmt machte: die Lehre vom Kampf,
ums Dasein und die natürliche Zuchtwahl, das ist es, was schon nach etwa
Zwanzig Jahren nur sehr untergeordneten Werth behalten hat, während das
am Darwinismus als werthvoll Festgehaltene, das Princip der Entwicklung,
immer mehr als etwas Altes erkannt wird, als ein der deutschen Philosophie
urwüchsiger Gedanke. Und je mehr grade neuerdings die Eiferer für den
Darwinismus zur Rechtfertigung ihrer Anschauung darauf hinweisen, daß bereits
Leibnitz, Herder, Kant, Goethe, Schelling, Ocker u. s. w. denselben Gedanken,
den der Entwicklung der Vielheit aus dem Einen, gehabt hätten, je mehr diese
Eiferer den Namen Darwinismus verwerfen und den Namen Descendenz¬
lehre an die Stelle setzen, eben weil die anfängliche Begründung der Entwick¬
lung durch Darwin als ungenügend erkannt sei: destomehr verdunkeln diese
Eiferer selbst den Ruhm Darwin's und zünden das Licht des deutschen Idealis¬
mus wieder an. Denn Darwin, der als Bringer eines positiven Gesetzes ge-


Grenzboten II. 1876. 41
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[0325] Lazarus' Leben der Seele. Das Gesetz der Apperception. Von Dr. L. Weis. Eine reiche Zeit für die Wissenschaft ist das Ende der fünfziger Jahre. 1857 brachte mit Lazarus' „Leben der Seele" das Gesetz der Apperception. 1858 begründete Kekule die Vierwerthigkeit des Kohlenstoffs und gab damit den Schlußstein zu seinem Gesetze vom Werth der Atome. 1859 erschien Darwin's Entstehung der Arten mit den Lehren vom Kampf ums Dasein Und von der natürlichen Zuchtwahl. Diesen letztgekommenen Lehren ward die glänzendste Aufnahme. Kein Gebildeter durfte es wagen Unkenntniß der¬ selben zu zeigen. Aber je rascher der Glanz, um so rascher das Dunkel. Nicht freilich, als ob der Darwinismus überhaupt in Vergessenheit gerathen sei oder zu gerathen hätte. Unverkümmert vielmehr wird ihm für alle Zeit das Verdienst bleiben, die wissenschaftliche Forschung wieder in das Fahr¬ wasser der Speculation und Philosophie gedrängt zu haben. Indessen grade das, was den Darwinismus zuerst so berühmt machte: die Lehre vom Kampf, ums Dasein und die natürliche Zuchtwahl, das ist es, was schon nach etwa Zwanzig Jahren nur sehr untergeordneten Werth behalten hat, während das am Darwinismus als werthvoll Festgehaltene, das Princip der Entwicklung, immer mehr als etwas Altes erkannt wird, als ein der deutschen Philosophie urwüchsiger Gedanke. Und je mehr grade neuerdings die Eiferer für den Darwinismus zur Rechtfertigung ihrer Anschauung darauf hinweisen, daß bereits Leibnitz, Herder, Kant, Goethe, Schelling, Ocker u. s. w. denselben Gedanken, den der Entwicklung der Vielheit aus dem Einen, gehabt hätten, je mehr diese Eiferer den Namen Darwinismus verwerfen und den Namen Descendenz¬ lehre an die Stelle setzen, eben weil die anfängliche Begründung der Entwick¬ lung durch Darwin als ungenügend erkannt sei: destomehr verdunkeln diese Eiferer selbst den Ruhm Darwin's und zünden das Licht des deutschen Idealis¬ mus wieder an. Denn Darwin, der als Bringer eines positiven Gesetzes ge- Grenzboten II. 1876. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/325>, abgerufen am 23.11.2024.