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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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von sich abzuwälzen, wie er schon gleich nach der Katastrophe sich als einen
von den Göttern Gehaßten und Verfolgten bezeichnet hatte. Mild und ver¬
söhnlich macht ihn sein Unglück nicht, sondern er geht mit dem Gefühl grim¬
migen Hasses gegen seine Vaterstadt und gegen seine Söhne, welche die Pflicht
der Pietät gegen ihn verletzt haben, in die Grabesruhe.

Während Türschmann das Bild des Oedipus dunkler hält, als es nach
der gewöhnlichen Auffassung erscheint, hat er um so leichtere Farben für das
Gemälde der Antigone. Die leidenschaftlich bald mit erhabenem Schwung,
bald mit bitteren höhnenden Worten gegen Kreon kämpfende Jungfrau tritt
bei ihm zurück vor der innig liebenden Schwester; in den wilden trotzigen
Leidenschaften, welche das Labdakidenhaus verwüstet und zerrüttet haben, steht
sie da als die Vertreterin der Familtenpietät und der reinen Menschlichkeit, die
nicht dazu geboren ist mitzuhassen, sondern anzukleben. Allerdings erscheint
sie in der That so im Oedipus auf Kolonos, das ist nicht zu bezweifeln;
aber in der Tragödie, die Sophokles nach ihrem Namen genannt hat, hat
der Dichter ihr leidenschaftliches und über das Maß hinausgehendes Auftreten
gegen den Träger der Staatsgewalt nicht minder betont als ihre schwesterliche
Pietät. Türschmann glaubt eine gewichtige Bestätigung seiner Auffassung in
den Schlußworten der letzten längeren Rede der Antigone zu finden:


Doch wenn es so den Göttern wohlgefällig war,
Betern' ich, daß ich büße, weil ich schuldig bin ;
Sind aber diese schuldig, o dann mögen sie
Nicht schlimmer büßen, als sie mir thun wider Recht!

Schwerlich aber sind diese Worte so zu verstehen, wie sie der Recitator
auffaßte und vortrug, nämlich nicht als Ausdruck einer Gesinnung, die auch
das Recht des Feindes achtet, sondern als der heiße Wunsch, daß dem Kreon
das Schlimmste und Aergste geschehen möge. Zugleich drücken sie effectvoll
ihre Empfindung aus, daß ihr selber ihr Geschick als ein überaus gräßliches
erscheine. Daß sie voll bitteren Hasses gegen Kreon den Weg zum Tode an¬
tritt, zeigen auch ihre letzten Worte, die sie zum Chor spricht:
'


Seht, was ich erduld, und erdulde von wem,
Da mir Heiliges heilig gegolten.

Mit dieser Darlegung ist nicht behauptet, daß der Charakter der Anti¬
gone in beiden Dramen ein innerlich verschiedener sei; er erscheint nur anders
und muß anders erscheinen je nach den verschiedenen Situationen. In beiden
ist sie das die Pietätspfltchten über alles stellende, leidenschaftliche Mädchen;
während aber ihre Leidenschaft in dem ersten der Situation gemäß nur so
wett geht, daß sie sich auf dem Grabe des heißgeliebten Vaters den Tod
geben will, kommt sie im zweiten, wo durch Kreon's hartes Verbot ihr per¬
sönlich Unrecht zugefügt wird, in Conflict mit der Staatsgewalt, sie wird


von sich abzuwälzen, wie er schon gleich nach der Katastrophe sich als einen
von den Göttern Gehaßten und Verfolgten bezeichnet hatte. Mild und ver¬
söhnlich macht ihn sein Unglück nicht, sondern er geht mit dem Gefühl grim¬
migen Hasses gegen seine Vaterstadt und gegen seine Söhne, welche die Pflicht
der Pietät gegen ihn verletzt haben, in die Grabesruhe.

Während Türschmann das Bild des Oedipus dunkler hält, als es nach
der gewöhnlichen Auffassung erscheint, hat er um so leichtere Farben für das
Gemälde der Antigone. Die leidenschaftlich bald mit erhabenem Schwung,
bald mit bitteren höhnenden Worten gegen Kreon kämpfende Jungfrau tritt
bei ihm zurück vor der innig liebenden Schwester; in den wilden trotzigen
Leidenschaften, welche das Labdakidenhaus verwüstet und zerrüttet haben, steht
sie da als die Vertreterin der Familtenpietät und der reinen Menschlichkeit, die
nicht dazu geboren ist mitzuhassen, sondern anzukleben. Allerdings erscheint
sie in der That so im Oedipus auf Kolonos, das ist nicht zu bezweifeln;
aber in der Tragödie, die Sophokles nach ihrem Namen genannt hat, hat
der Dichter ihr leidenschaftliches und über das Maß hinausgehendes Auftreten
gegen den Träger der Staatsgewalt nicht minder betont als ihre schwesterliche
Pietät. Türschmann glaubt eine gewichtige Bestätigung seiner Auffassung in
den Schlußworten der letzten längeren Rede der Antigone zu finden:


Doch wenn es so den Göttern wohlgefällig war,
Betern' ich, daß ich büße, weil ich schuldig bin ;
Sind aber diese schuldig, o dann mögen sie
Nicht schlimmer büßen, als sie mir thun wider Recht!

Schwerlich aber sind diese Worte so zu verstehen, wie sie der Recitator
auffaßte und vortrug, nämlich nicht als Ausdruck einer Gesinnung, die auch
das Recht des Feindes achtet, sondern als der heiße Wunsch, daß dem Kreon
das Schlimmste und Aergste geschehen möge. Zugleich drücken sie effectvoll
ihre Empfindung aus, daß ihr selber ihr Geschick als ein überaus gräßliches
erscheine. Daß sie voll bitteren Hasses gegen Kreon den Weg zum Tode an¬
tritt, zeigen auch ihre letzten Worte, die sie zum Chor spricht:
'


Seht, was ich erduld, und erdulde von wem,
Da mir Heiliges heilig gegolten.

Mit dieser Darlegung ist nicht behauptet, daß der Charakter der Anti¬
gone in beiden Dramen ein innerlich verschiedener sei; er erscheint nur anders
und muß anders erscheinen je nach den verschiedenen Situationen. In beiden
ist sie das die Pietätspfltchten über alles stellende, leidenschaftliche Mädchen;
während aber ihre Leidenschaft in dem ersten der Situation gemäß nur so
wett geht, daß sie sich auf dem Grabe des heißgeliebten Vaters den Tod
geben will, kommt sie im zweiten, wo durch Kreon's hartes Verbot ihr per¬
sönlich Unrecht zugefügt wird, in Conflict mit der Staatsgewalt, sie wird


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[0032] von sich abzuwälzen, wie er schon gleich nach der Katastrophe sich als einen von den Göttern Gehaßten und Verfolgten bezeichnet hatte. Mild und ver¬ söhnlich macht ihn sein Unglück nicht, sondern er geht mit dem Gefühl grim¬ migen Hasses gegen seine Vaterstadt und gegen seine Söhne, welche die Pflicht der Pietät gegen ihn verletzt haben, in die Grabesruhe. Während Türschmann das Bild des Oedipus dunkler hält, als es nach der gewöhnlichen Auffassung erscheint, hat er um so leichtere Farben für das Gemälde der Antigone. Die leidenschaftlich bald mit erhabenem Schwung, bald mit bitteren höhnenden Worten gegen Kreon kämpfende Jungfrau tritt bei ihm zurück vor der innig liebenden Schwester; in den wilden trotzigen Leidenschaften, welche das Labdakidenhaus verwüstet und zerrüttet haben, steht sie da als die Vertreterin der Familtenpietät und der reinen Menschlichkeit, die nicht dazu geboren ist mitzuhassen, sondern anzukleben. Allerdings erscheint sie in der That so im Oedipus auf Kolonos, das ist nicht zu bezweifeln; aber in der Tragödie, die Sophokles nach ihrem Namen genannt hat, hat der Dichter ihr leidenschaftliches und über das Maß hinausgehendes Auftreten gegen den Träger der Staatsgewalt nicht minder betont als ihre schwesterliche Pietät. Türschmann glaubt eine gewichtige Bestätigung seiner Auffassung in den Schlußworten der letzten längeren Rede der Antigone zu finden: Doch wenn es so den Göttern wohlgefällig war, Betern' ich, daß ich büße, weil ich schuldig bin ; Sind aber diese schuldig, o dann mögen sie Nicht schlimmer büßen, als sie mir thun wider Recht! Schwerlich aber sind diese Worte so zu verstehen, wie sie der Recitator auffaßte und vortrug, nämlich nicht als Ausdruck einer Gesinnung, die auch das Recht des Feindes achtet, sondern als der heiße Wunsch, daß dem Kreon das Schlimmste und Aergste geschehen möge. Zugleich drücken sie effectvoll ihre Empfindung aus, daß ihr selber ihr Geschick als ein überaus gräßliches erscheine. Daß sie voll bitteren Hasses gegen Kreon den Weg zum Tode an¬ tritt, zeigen auch ihre letzten Worte, die sie zum Chor spricht: ' Seht, was ich erduld, und erdulde von wem, Da mir Heiliges heilig gegolten. Mit dieser Darlegung ist nicht behauptet, daß der Charakter der Anti¬ gone in beiden Dramen ein innerlich verschiedener sei; er erscheint nur anders und muß anders erscheinen je nach den verschiedenen Situationen. In beiden ist sie das die Pietätspfltchten über alles stellende, leidenschaftliche Mädchen; während aber ihre Leidenschaft in dem ersten der Situation gemäß nur so wett geht, daß sie sich auf dem Grabe des heißgeliebten Vaters den Tod geben will, kommt sie im zweiten, wo durch Kreon's hartes Verbot ihr per¬ sönlich Unrecht zugefügt wird, in Conflict mit der Staatsgewalt, sie wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/32>, abgerufen am 27.11.2024.