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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Nation paßt; man muß vielmehr anerkennen, daß fast w jedem Lande Europas
das Verhältniß von Staat und Kirche eine andere Ordnung erheischt; aber
jene abstracte Trennung beider, welche der fortschrittliche Liberalismus zum
Ideal hat und durch welche die Religion aus einer öffentlichen Angelegenheit
des Volkes zur puren Privatsache gemacht wird, kann überall nur der Noth¬
behelf für höchst elementare oder sehr chaotische Zustände sein. Was aber
den deutschen Staat und die evangelische Kirche deutscher Nation angeht,
beides Lebensformen eines Volkes, dessen größte That und tiefstgreifendes
Erlebniß die Reformation ist, so ist zwischen ihnen das allerinnigste Wechsel¬
verhältniß möglich und zu erstreben. Nur freilich auf Grund der anerkannten
Eigenart beider, der principiellen Freiheit nicht nur des Staates, sondern
auch der Kirche, ein Verhältniß nicht wie das seitherige von Herr und Magd,
vielmehr wie oft gesagt worden ist wie von Mann und Weib; denn wie in
einer rechten Ehe das Weib dem Manne allerdings als seinem Herrn Unter¬
than sein wird ohne allen juridischen Vorbehalt (eben weil der sittliche Vor¬
behalt selbstverständlich ist), und dennoch von ihm als die ebenbürtige Gehülfin,
ja als das in gewissem Sinn höhere Wesen in ihrer sittlichen Freiheit und
Hoheit geehrt, geschirmt und geschont werden wird, so soll die Kirche, dem
in seinen eigenen sittlichen Schranken gehaltenen Staatsgesetz Unterthan und
doch innerhalb desselben frei und selbständig, als Gehülfin des Staates im
zwiefältigen und doch zuletzt einheitlichen sittlichen Berufe, mit ihm dem Volke
dienen zu seiner zeitlichen und ewigen Wohlfahrt. Die rechtliche Stellung,
die wir demgemäß für die Kirche fordern, ist eben die, zu welcher, wenn nicht
alles trügt, auch wirklich jetzt die gesundesten Rathschläge in unserem Vater¬
land führen: die Stellung einer öffentlichen und bevorrechteten Corporation
im Staate, die ohne sich der Culturgemeinschaft mit dem Staate entziehen
zu wollen, doch ihrer eignen Lebensgesetze sich bewußt ist und dieselben inner¬
halb des Rahmens der Staatsordnung auch selber als ihre eigenen rechtlichen
Ordnungen ausprägt. Unser Verfasser will diese öffentliche und bevorrechtete
Corporationsstellung der Kirche auch, aber er macht die einfachste Folgerung
derselben sofort wieder zu nichte, indem er an die Stelle der freien Selbst¬
bestimmung der Kirche eine vom Staatskirchenregiment geforderte Umge¬
staltung derselben setzt, nach der es geradezu zweifelhaft würde, ob noch
von einer Identität der evangelischen Kirche mit ihrer seitherigen Existenz ge¬
redet werden dürfte. Wenn wir dem gegenüber uns durchaus ablehnend ver¬
halten und lediglich aus folgerichtiger Durchführung der verheißenen und
eingeleiteten Verselbständigung der Kirche bestehen, so thun wir das nicht
in der Meinung, die der Verfasser den Freunden dieser Verfassungsentwicklung
unterschiebt, als ob die Leute wieder gläubig werden würden, wenn sie über
den Glauben zu beschließen hätten, oder gar in dem Wahn, als wäre der


Nation paßt; man muß vielmehr anerkennen, daß fast w jedem Lande Europas
das Verhältniß von Staat und Kirche eine andere Ordnung erheischt; aber
jene abstracte Trennung beider, welche der fortschrittliche Liberalismus zum
Ideal hat und durch welche die Religion aus einer öffentlichen Angelegenheit
des Volkes zur puren Privatsache gemacht wird, kann überall nur der Noth¬
behelf für höchst elementare oder sehr chaotische Zustände sein. Was aber
den deutschen Staat und die evangelische Kirche deutscher Nation angeht,
beides Lebensformen eines Volkes, dessen größte That und tiefstgreifendes
Erlebniß die Reformation ist, so ist zwischen ihnen das allerinnigste Wechsel¬
verhältniß möglich und zu erstreben. Nur freilich auf Grund der anerkannten
Eigenart beider, der principiellen Freiheit nicht nur des Staates, sondern
auch der Kirche, ein Verhältniß nicht wie das seitherige von Herr und Magd,
vielmehr wie oft gesagt worden ist wie von Mann und Weib; denn wie in
einer rechten Ehe das Weib dem Manne allerdings als seinem Herrn Unter¬
than sein wird ohne allen juridischen Vorbehalt (eben weil der sittliche Vor¬
behalt selbstverständlich ist), und dennoch von ihm als die ebenbürtige Gehülfin,
ja als das in gewissem Sinn höhere Wesen in ihrer sittlichen Freiheit und
Hoheit geehrt, geschirmt und geschont werden wird, so soll die Kirche, dem
in seinen eigenen sittlichen Schranken gehaltenen Staatsgesetz Unterthan und
doch innerhalb desselben frei und selbständig, als Gehülfin des Staates im
zwiefältigen und doch zuletzt einheitlichen sittlichen Berufe, mit ihm dem Volke
dienen zu seiner zeitlichen und ewigen Wohlfahrt. Die rechtliche Stellung,
die wir demgemäß für die Kirche fordern, ist eben die, zu welcher, wenn nicht
alles trügt, auch wirklich jetzt die gesundesten Rathschläge in unserem Vater¬
land führen: die Stellung einer öffentlichen und bevorrechteten Corporation
im Staate, die ohne sich der Culturgemeinschaft mit dem Staate entziehen
zu wollen, doch ihrer eignen Lebensgesetze sich bewußt ist und dieselben inner¬
halb des Rahmens der Staatsordnung auch selber als ihre eigenen rechtlichen
Ordnungen ausprägt. Unser Verfasser will diese öffentliche und bevorrechtete
Corporationsstellung der Kirche auch, aber er macht die einfachste Folgerung
derselben sofort wieder zu nichte, indem er an die Stelle der freien Selbst¬
bestimmung der Kirche eine vom Staatskirchenregiment geforderte Umge¬
staltung derselben setzt, nach der es geradezu zweifelhaft würde, ob noch
von einer Identität der evangelischen Kirche mit ihrer seitherigen Existenz ge¬
redet werden dürfte. Wenn wir dem gegenüber uns durchaus ablehnend ver¬
halten und lediglich aus folgerichtiger Durchführung der verheißenen und
eingeleiteten Verselbständigung der Kirche bestehen, so thun wir das nicht
in der Meinung, die der Verfasser den Freunden dieser Verfassungsentwicklung
unterschiebt, als ob die Leute wieder gläubig werden würden, wenn sie über
den Glauben zu beschließen hätten, oder gar in dem Wahn, als wäre der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/264>, abgerufen am 28.07.2024.