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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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ist. Der Verfasser hat wohl Recht, das Wesen des Staates nicht blos in
die formale Handhabung des Rechts zu setzen: ist doch das lebendige Recht
selbst nichts blos formales, sondern in seiner concreten Gestalt durchweg von
^n natürlich-sittlichen Verhältnissen unzertrennlich, die es zu regeln hat. Aber
das Anerkenntniß. daß der Staat eine über das bloße Rechtsgebiet hinausgehende
sittliche Aufgabe habe, verpflichtet noch lange nicht, ihn zu der Verwirklichung
der sittlichen Idee schlechthin zu machen, zur "Centralisation der sittlichen
Functionen", zum "sittlichen Mikrokosmus". Dieser überspannte Hegel'sche
Staatsbegriff, dessen folgerichtige Durchführung das Grab feder höheren Frei¬
heit als der rein politischen wäre, kommt jetzt leider wieder in Aufnahme, in¬
dem theils die großen politischen Erfolge unsres Volkes zur Ueberspannung
der Staatsidee verführen, theils der herrschende Skepticismus gegen das Ueber¬
sinnliche und Religiöse die Gedanken Vieler nicht höher als bis zu diesem
Zugleich sittlichen und sinnlichen Erdengott aufsteigen läßt; aber im Grunde
ist er nichts anderes als die antikheidnische, griechisch-römische Auffassung des
Staates, die das Christenthum ein für allemal abgethan haben sollte. Hätte
diese Staatstdee Recht, wäre der Staat die sittliche Gemeinschaft schlechthin
und die Kirche nur die religiöse Seite derselben, dann wäre der Staat das
Reich Gottes auf Erden: bedarf es erst des Beweises, daß das ein dem
Christenthum durchaus fremder und antipathischer Gedanke ist? Wie könnte
auch der Staat die Verwirklichung der sittlichen Idee sein, da die volle
Verwirklichung der sittlichen Idee wie in dem Einzelnen, so in der Gesammt¬
heit einer anderen, jenseitigen Welt angehört, in die der Staat mit keiner
^afer seines Lebens hinüberreicht; da auch auf Erden schon die höhere Sitt¬
lichkeit, die allein wahre, nicht aus Gesetz und Gebot und aus Furcht der
Strafe kommt, sondern aus der freien Liebe Gottes, die der Staat in nie¬
mandem hervorrufen kann; ja da der Staat theilweise selbst der gröbsten Un-
sittlichkeit mit seinen Mitteln nicht zu steuern vermag und daher auch zu
steuern gar nicht für seinen Beruf hält, z. B. den Sünden der Unkeuschheit,
deren bei der vom Staat der Kirche aufzutragenden "Heilung der Sitten" zu
gedenken der Verfasser auffallend vergessen hat? Und andrerseits, wie könnte
es der Idee der Kirche genügen, die religiöse Seite des Staates zu sein, da
hiermit die Religion, dieser höchste und in die Ewigkeit hineinreichende Selbst¬
weck, zum Mittel für den immerhin irdischen und endlichen Staatszweck herab¬
gesetzt würde; da die Basis des Staates die Nationalität ist, die Kirche aber
von Haus aus "nicht Juden noch Griechen" kennt, und auch in ihrer evan¬
gelischen Ausprägung die Anlage und Bestimmung hat, kosmopolitisch,
Menschheitlich zu sein und zu werden; endlich, da jeder Versuch, die Zwecke
der Kirche mit den Mitteln des Staates zu fördern, von jeher nur zur Ver¬
fälschung derselben, zu den widerwärtigsten Erscheinungen der Weltgeschichte,


Grenzboten II. 1876. 33

ist. Der Verfasser hat wohl Recht, das Wesen des Staates nicht blos in
die formale Handhabung des Rechts zu setzen: ist doch das lebendige Recht
selbst nichts blos formales, sondern in seiner concreten Gestalt durchweg von
^n natürlich-sittlichen Verhältnissen unzertrennlich, die es zu regeln hat. Aber
das Anerkenntniß. daß der Staat eine über das bloße Rechtsgebiet hinausgehende
sittliche Aufgabe habe, verpflichtet noch lange nicht, ihn zu der Verwirklichung
der sittlichen Idee schlechthin zu machen, zur „Centralisation der sittlichen
Functionen", zum „sittlichen Mikrokosmus". Dieser überspannte Hegel'sche
Staatsbegriff, dessen folgerichtige Durchführung das Grab feder höheren Frei¬
heit als der rein politischen wäre, kommt jetzt leider wieder in Aufnahme, in¬
dem theils die großen politischen Erfolge unsres Volkes zur Ueberspannung
der Staatsidee verführen, theils der herrschende Skepticismus gegen das Ueber¬
sinnliche und Religiöse die Gedanken Vieler nicht höher als bis zu diesem
Zugleich sittlichen und sinnlichen Erdengott aufsteigen läßt; aber im Grunde
ist er nichts anderes als die antikheidnische, griechisch-römische Auffassung des
Staates, die das Christenthum ein für allemal abgethan haben sollte. Hätte
diese Staatstdee Recht, wäre der Staat die sittliche Gemeinschaft schlechthin
und die Kirche nur die religiöse Seite derselben, dann wäre der Staat das
Reich Gottes auf Erden: bedarf es erst des Beweises, daß das ein dem
Christenthum durchaus fremder und antipathischer Gedanke ist? Wie könnte
auch der Staat die Verwirklichung der sittlichen Idee sein, da die volle
Verwirklichung der sittlichen Idee wie in dem Einzelnen, so in der Gesammt¬
heit einer anderen, jenseitigen Welt angehört, in die der Staat mit keiner
^afer seines Lebens hinüberreicht; da auch auf Erden schon die höhere Sitt¬
lichkeit, die allein wahre, nicht aus Gesetz und Gebot und aus Furcht der
Strafe kommt, sondern aus der freien Liebe Gottes, die der Staat in nie¬
mandem hervorrufen kann; ja da der Staat theilweise selbst der gröbsten Un-
sittlichkeit mit seinen Mitteln nicht zu steuern vermag und daher auch zu
steuern gar nicht für seinen Beruf hält, z. B. den Sünden der Unkeuschheit,
deren bei der vom Staat der Kirche aufzutragenden „Heilung der Sitten" zu
gedenken der Verfasser auffallend vergessen hat? Und andrerseits, wie könnte
es der Idee der Kirche genügen, die religiöse Seite des Staates zu sein, da
hiermit die Religion, dieser höchste und in die Ewigkeit hineinreichende Selbst¬
weck, zum Mittel für den immerhin irdischen und endlichen Staatszweck herab¬
gesetzt würde; da die Basis des Staates die Nationalität ist, die Kirche aber
von Haus aus „nicht Juden noch Griechen" kennt, und auch in ihrer evan¬
gelischen Ausprägung die Anlage und Bestimmung hat, kosmopolitisch,
Menschheitlich zu sein und zu werden; endlich, da jeder Versuch, die Zwecke
der Kirche mit den Mitteln des Staates zu fördern, von jeher nur zur Ver¬
fälschung derselben, zu den widerwärtigsten Erscheinungen der Weltgeschichte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/261>, abgerufen am 27.11.2024.