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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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dererseits unchristlich, wofür wir uns auf zahlreiche Erscheinungen im deut¬
schen und wiederum im englischen Geistesleben berufen. Ja der Idealismus
der großen deutschen Poesie und Philosophie des späteren 18. und anhebenden
19. Jahrhunderts hat der Christlichkeit unseres Volkes vielleicht ebenso viel
zu Schaden als zu Nutzen gethan, indem er nicht nur gegen gewisse wesent¬
liche Seiten des Christenthums ebenso verblendete, wie er andere dem Ver¬
ständniß ausschloß, sondern auch durch seine ganze Einseitigkeit und Ueber¬
hebung die Reaction jenes ebenso einseitigen und darum in Materialismus
ausartenden Realismus, unter dessen Herrschaft wir jetzt stehen, hervorrief.
Das Christenthum aber ist ebenso gesund realistisch als idealistisch; es ver¬
kündet die höchste Idee, aber nicht als bloße Idee, sondern als Thatsache,
den zur Heilsthatsache verwirklichten ewigen göttlichen Liebesgedanken, und
gerade in dieser Einheit von Idealismus und Realismus liegt seine Voll¬
kommenheit, seine Ueberlegenheit über die himmelstrebendste Philosophie; ge¬
rade vermöge seiner idealen Thatsächlichkeit vermag es, was kein Platonismus
vermocht hat, nicht blos für das ideale Gute zu begeistern, sondern auch das
reale Böse, welches der philosophische Idealismus -- auch in Hegel -- nur
zu verflüchtigen weiß, voll anzuerkennen und real zu überwinden. Darum
glauben wir auch, daß neben dem vom Verfasser betonten Bedürfniß, einen
neuen geistigen Einheitspunkt zu finden, noch ein anderes praktischeres Motiv,
wie die Dinge gegenwärtig liegen, uns behufs der Rückkehr unseres Volks-
geistes zum Christenthum zu Hülfe kommen wird. Die ungeheuren sittlichen
Aufgaben, welche unser freiheitliches Nationalleben uns stellt, die Nothwendig¬
keit, das aus so viel äußerlichen Schranken und Banden gelöste Volk durch
eine desto stärkere sittliche Lebensnacht in innerlicher Zucht zu binden, die
sittlichen Abgründe, welche in Folge der Entchristlichung in unserm Volks¬
leben sich aufthun und die, wenn sie nicht bald geschlossen werden, unsre
nationale Kraft und junge Größe unrettbar verschlingen müßten, diese nicht
sowohl idealistischen als sehr realistischen Motive werden -- so hoffen wir --
in nicht serner Zeit einen großen Umschlag der Stimmung in Deutschland
zu Gunsten des Christenthums herbeiführen. Das aus diesen Motiven wteder-
gesuchte Christenthum wird dann freilich ein realistischeres, positiveres sein als
das des Verfassers, und wird doch, will's Gott, die Freiheit des Gedankens
und die Verwandtschaft mit aller Geisteserhebung und -befreiung nicht ver¬
leugnen.

Das Andere, was zur Heilung großer Uebel nächst der vollen Erkenntniß
ihrer Ursachen gehört, ist, daß man sich in der Wahl der Heilmittel nicht
vergreise. Wir halten die Idee der "Staatskirche" mindestens halbwegs
für einen solchen Fehlgriff, indem wir glauben, daß die ihm zu Grunde
liegende Auffassung des Verhältnisses von Staat und Kirche eine fehlerhafte


dererseits unchristlich, wofür wir uns auf zahlreiche Erscheinungen im deut¬
schen und wiederum im englischen Geistesleben berufen. Ja der Idealismus
der großen deutschen Poesie und Philosophie des späteren 18. und anhebenden
19. Jahrhunderts hat der Christlichkeit unseres Volkes vielleicht ebenso viel
zu Schaden als zu Nutzen gethan, indem er nicht nur gegen gewisse wesent¬
liche Seiten des Christenthums ebenso verblendete, wie er andere dem Ver¬
ständniß ausschloß, sondern auch durch seine ganze Einseitigkeit und Ueber¬
hebung die Reaction jenes ebenso einseitigen und darum in Materialismus
ausartenden Realismus, unter dessen Herrschaft wir jetzt stehen, hervorrief.
Das Christenthum aber ist ebenso gesund realistisch als idealistisch; es ver¬
kündet die höchste Idee, aber nicht als bloße Idee, sondern als Thatsache,
den zur Heilsthatsache verwirklichten ewigen göttlichen Liebesgedanken, und
gerade in dieser Einheit von Idealismus und Realismus liegt seine Voll¬
kommenheit, seine Ueberlegenheit über die himmelstrebendste Philosophie; ge¬
rade vermöge seiner idealen Thatsächlichkeit vermag es, was kein Platonismus
vermocht hat, nicht blos für das ideale Gute zu begeistern, sondern auch das
reale Böse, welches der philosophische Idealismus — auch in Hegel — nur
zu verflüchtigen weiß, voll anzuerkennen und real zu überwinden. Darum
glauben wir auch, daß neben dem vom Verfasser betonten Bedürfniß, einen
neuen geistigen Einheitspunkt zu finden, noch ein anderes praktischeres Motiv,
wie die Dinge gegenwärtig liegen, uns behufs der Rückkehr unseres Volks-
geistes zum Christenthum zu Hülfe kommen wird. Die ungeheuren sittlichen
Aufgaben, welche unser freiheitliches Nationalleben uns stellt, die Nothwendig¬
keit, das aus so viel äußerlichen Schranken und Banden gelöste Volk durch
eine desto stärkere sittliche Lebensnacht in innerlicher Zucht zu binden, die
sittlichen Abgründe, welche in Folge der Entchristlichung in unserm Volks¬
leben sich aufthun und die, wenn sie nicht bald geschlossen werden, unsre
nationale Kraft und junge Größe unrettbar verschlingen müßten, diese nicht
sowohl idealistischen als sehr realistischen Motive werden — so hoffen wir —
in nicht serner Zeit einen großen Umschlag der Stimmung in Deutschland
zu Gunsten des Christenthums herbeiführen. Das aus diesen Motiven wteder-
gesuchte Christenthum wird dann freilich ein realistischeres, positiveres sein als
das des Verfassers, und wird doch, will's Gott, die Freiheit des Gedankens
und die Verwandtschaft mit aller Geisteserhebung und -befreiung nicht ver¬
leugnen.

Das Andere, was zur Heilung großer Uebel nächst der vollen Erkenntniß
ihrer Ursachen gehört, ist, daß man sich in der Wahl der Heilmittel nicht
vergreise. Wir halten die Idee der „Staatskirche" mindestens halbwegs
für einen solchen Fehlgriff, indem wir glauben, daß die ihm zu Grunde
liegende Auffassung des Verhältnisses von Staat und Kirche eine fehlerhafte


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[0260] dererseits unchristlich, wofür wir uns auf zahlreiche Erscheinungen im deut¬ schen und wiederum im englischen Geistesleben berufen. Ja der Idealismus der großen deutschen Poesie und Philosophie des späteren 18. und anhebenden 19. Jahrhunderts hat der Christlichkeit unseres Volkes vielleicht ebenso viel zu Schaden als zu Nutzen gethan, indem er nicht nur gegen gewisse wesent¬ liche Seiten des Christenthums ebenso verblendete, wie er andere dem Ver¬ ständniß ausschloß, sondern auch durch seine ganze Einseitigkeit und Ueber¬ hebung die Reaction jenes ebenso einseitigen und darum in Materialismus ausartenden Realismus, unter dessen Herrschaft wir jetzt stehen, hervorrief. Das Christenthum aber ist ebenso gesund realistisch als idealistisch; es ver¬ kündet die höchste Idee, aber nicht als bloße Idee, sondern als Thatsache, den zur Heilsthatsache verwirklichten ewigen göttlichen Liebesgedanken, und gerade in dieser Einheit von Idealismus und Realismus liegt seine Voll¬ kommenheit, seine Ueberlegenheit über die himmelstrebendste Philosophie; ge¬ rade vermöge seiner idealen Thatsächlichkeit vermag es, was kein Platonismus vermocht hat, nicht blos für das ideale Gute zu begeistern, sondern auch das reale Böse, welches der philosophische Idealismus — auch in Hegel — nur zu verflüchtigen weiß, voll anzuerkennen und real zu überwinden. Darum glauben wir auch, daß neben dem vom Verfasser betonten Bedürfniß, einen neuen geistigen Einheitspunkt zu finden, noch ein anderes praktischeres Motiv, wie die Dinge gegenwärtig liegen, uns behufs der Rückkehr unseres Volks- geistes zum Christenthum zu Hülfe kommen wird. Die ungeheuren sittlichen Aufgaben, welche unser freiheitliches Nationalleben uns stellt, die Nothwendig¬ keit, das aus so viel äußerlichen Schranken und Banden gelöste Volk durch eine desto stärkere sittliche Lebensnacht in innerlicher Zucht zu binden, die sittlichen Abgründe, welche in Folge der Entchristlichung in unserm Volks¬ leben sich aufthun und die, wenn sie nicht bald geschlossen werden, unsre nationale Kraft und junge Größe unrettbar verschlingen müßten, diese nicht sowohl idealistischen als sehr realistischen Motive werden — so hoffen wir — in nicht serner Zeit einen großen Umschlag der Stimmung in Deutschland zu Gunsten des Christenthums herbeiführen. Das aus diesen Motiven wteder- gesuchte Christenthum wird dann freilich ein realistischeres, positiveres sein als das des Verfassers, und wird doch, will's Gott, die Freiheit des Gedankens und die Verwandtschaft mit aller Geisteserhebung und -befreiung nicht ver¬ leugnen. Das Andere, was zur Heilung großer Uebel nächst der vollen Erkenntniß ihrer Ursachen gehört, ist, daß man sich in der Wahl der Heilmittel nicht vergreise. Wir halten die Idee der „Staatskirche" mindestens halbwegs für einen solchen Fehlgriff, indem wir glauben, daß die ihm zu Grunde liegende Auffassung des Verhältnisses von Staat und Kirche eine fehlerhafte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/260>, abgerufen am 27.11.2024.