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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Verfassung mußte die protestantische Kirchenverfassung entsprechen. Er über-
sieht hiebei, daß sowohl das Urchristenthum als der Calvinismus unter noch
viel ungünstigeren politischen Verhältnissen eine gemeindliche Organisation
ausgebildet haben, daß also deren Unterlassung auf deutsch-lutherischem Boden
auch innerkirchliche, in der Eigenheit der deutschen Reformation liegende Ur¬
sachen gehabt haben muß. Daß nun der Verfasser dem deutsch-lutherischen
System des landesherrlichen Ktrchenregiments auch in seiner territorialistischen
Fassung und Ausbildung gar nicht abhold ist, versteht sich nach seinem Hegel-
Hen Staatsbegriff im Voraus; doch ist er verständig genug, für die religiös-
sittliche Function des Staates besondere Organe zu fordern, "Organe, die dem
Ganzen unterworfen und in denen die Seele des Ganzen gegenwärtig, die
aber zugleich in ihrer Bestimmtheit nicht nur abhängig, sondern lebendig und
selbstthätig sind." Um so weniger gefällt ihm die durch das letzte halbe
Jahrhundert, Hand in Hand mit der erneuerten evangelischen Frömmigkeit
und Theologie, hindurchtönende Forderung einer weitergehenden Freiheit der
Kirche. Er nimmt mit Recht als Herold dieses Gedankens vor allem Schleier-
wacher in Anspruch, aber wiederum mit einseitigem und verkehrten Regreß
auf die "Reden über Religion": die Motive, aus denen Schleiermacher eine
Freiheit der Kirche dem Staat gegenüber für recht hielt, waren doch wohl
aus dem I>aeiüeu3 smeerus und anderen theologischen Schriften reifer
und richtiger zu entnehmen. Ebenso schief ist es, die Gunst, welche dieser
bedanke kirchlicher Freiheit in weitern Kreisen des evangelischen Deutschlands
gefunden, auf den Eindruck der belgischen Constitution zurückzuführen und
das Vorbild der Protestanten von Judens. Eleve. Berg und Mark und die
^ran anschließende Kirchenverfassungslehre eines Nitzsch und der ganzen so-
Senannten Vermittlungstheologie zu übersehen. Die kirchlich ebenso wie poli¬
tisch unfruchtbare und verfahrene Regierungszeit Friedrich Wilhelm's IV. mit
^rechter Kritik durchwandernd, kommt der Verfasser zur Gegenwart und zu
'dren Versuchen, der preußischen Landeskirche eine neue Organisation zu geben.
Er spricht mit Anerkennung von den Verfassungsvorlagen des Overkirchen-
raths, erklärt die Forderung des Protestantenvereins, das kirchliche Wahl- und
^epräsentativrecht jedem zuzuerkennen, der aus der Landeskirche zufällig nicht
ausgetreten, für eine höchst sonderbare, ja für die Eingebung eines liberalen
"Fanatismus des Nonsens"; andrerseits erstaunt er über die unseren Kirchen-
Verfassungsbestrebungen vermeintlich zu Grunde liegende Erwartung, "als
würden die Mitglieder der Kirche in irgend einem Sinne und Grade wieder
Mubig werden, wenn sie zur Mitbildung des Glaubens berufen würden."

Von dem an sich gewiß unbestreitbaren Satz aus "Nicht mit Formen
des Kirchenregiments ist der evangelischen Kirche zu helfen" geht der Verfasser
endlich (Kap. X.) zu seinen eignen Reformideen über, von deren Verwirklichung


Gttnjbotm II. 1876. 22

Verfassung mußte die protestantische Kirchenverfassung entsprechen. Er über-
sieht hiebei, daß sowohl das Urchristenthum als der Calvinismus unter noch
viel ungünstigeren politischen Verhältnissen eine gemeindliche Organisation
ausgebildet haben, daß also deren Unterlassung auf deutsch-lutherischem Boden
auch innerkirchliche, in der Eigenheit der deutschen Reformation liegende Ur¬
sachen gehabt haben muß. Daß nun der Verfasser dem deutsch-lutherischen
System des landesherrlichen Ktrchenregiments auch in seiner territorialistischen
Fassung und Ausbildung gar nicht abhold ist, versteht sich nach seinem Hegel-
Hen Staatsbegriff im Voraus; doch ist er verständig genug, für die religiös-
sittliche Function des Staates besondere Organe zu fordern, „Organe, die dem
Ganzen unterworfen und in denen die Seele des Ganzen gegenwärtig, die
aber zugleich in ihrer Bestimmtheit nicht nur abhängig, sondern lebendig und
selbstthätig sind." Um so weniger gefällt ihm die durch das letzte halbe
Jahrhundert, Hand in Hand mit der erneuerten evangelischen Frömmigkeit
und Theologie, hindurchtönende Forderung einer weitergehenden Freiheit der
Kirche. Er nimmt mit Recht als Herold dieses Gedankens vor allem Schleier-
wacher in Anspruch, aber wiederum mit einseitigem und verkehrten Regreß
auf die „Reden über Religion": die Motive, aus denen Schleiermacher eine
Freiheit der Kirche dem Staat gegenüber für recht hielt, waren doch wohl
aus dem I>aeiüeu3 smeerus und anderen theologischen Schriften reifer
und richtiger zu entnehmen. Ebenso schief ist es, die Gunst, welche dieser
bedanke kirchlicher Freiheit in weitern Kreisen des evangelischen Deutschlands
gefunden, auf den Eindruck der belgischen Constitution zurückzuführen und
das Vorbild der Protestanten von Judens. Eleve. Berg und Mark und die
^ran anschließende Kirchenverfassungslehre eines Nitzsch und der ganzen so-
Senannten Vermittlungstheologie zu übersehen. Die kirchlich ebenso wie poli¬
tisch unfruchtbare und verfahrene Regierungszeit Friedrich Wilhelm's IV. mit
^rechter Kritik durchwandernd, kommt der Verfasser zur Gegenwart und zu
'dren Versuchen, der preußischen Landeskirche eine neue Organisation zu geben.
Er spricht mit Anerkennung von den Verfassungsvorlagen des Overkirchen-
raths, erklärt die Forderung des Protestantenvereins, das kirchliche Wahl- und
^epräsentativrecht jedem zuzuerkennen, der aus der Landeskirche zufällig nicht
ausgetreten, für eine höchst sonderbare, ja für die Eingebung eines liberalen
"Fanatismus des Nonsens"; andrerseits erstaunt er über die unseren Kirchen-
Verfassungsbestrebungen vermeintlich zu Grunde liegende Erwartung, „als
würden die Mitglieder der Kirche in irgend einem Sinne und Grade wieder
Mubig werden, wenn sie zur Mitbildung des Glaubens berufen würden."

Von dem an sich gewiß unbestreitbaren Satz aus „Nicht mit Formen
des Kirchenregiments ist der evangelischen Kirche zu helfen" geht der Verfasser
endlich (Kap. X.) zu seinen eignen Reformideen über, von deren Verwirklichung


Gttnjbotm II. 1876. 22
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[0253] Verfassung mußte die protestantische Kirchenverfassung entsprechen. Er über- sieht hiebei, daß sowohl das Urchristenthum als der Calvinismus unter noch viel ungünstigeren politischen Verhältnissen eine gemeindliche Organisation ausgebildet haben, daß also deren Unterlassung auf deutsch-lutherischem Boden auch innerkirchliche, in der Eigenheit der deutschen Reformation liegende Ur¬ sachen gehabt haben muß. Daß nun der Verfasser dem deutsch-lutherischen System des landesherrlichen Ktrchenregiments auch in seiner territorialistischen Fassung und Ausbildung gar nicht abhold ist, versteht sich nach seinem Hegel- Hen Staatsbegriff im Voraus; doch ist er verständig genug, für die religiös- sittliche Function des Staates besondere Organe zu fordern, „Organe, die dem Ganzen unterworfen und in denen die Seele des Ganzen gegenwärtig, die aber zugleich in ihrer Bestimmtheit nicht nur abhängig, sondern lebendig und selbstthätig sind." Um so weniger gefällt ihm die durch das letzte halbe Jahrhundert, Hand in Hand mit der erneuerten evangelischen Frömmigkeit und Theologie, hindurchtönende Forderung einer weitergehenden Freiheit der Kirche. Er nimmt mit Recht als Herold dieses Gedankens vor allem Schleier- wacher in Anspruch, aber wiederum mit einseitigem und verkehrten Regreß auf die „Reden über Religion": die Motive, aus denen Schleiermacher eine Freiheit der Kirche dem Staat gegenüber für recht hielt, waren doch wohl aus dem I>aeiüeu3 smeerus und anderen theologischen Schriften reifer und richtiger zu entnehmen. Ebenso schief ist es, die Gunst, welche dieser bedanke kirchlicher Freiheit in weitern Kreisen des evangelischen Deutschlands gefunden, auf den Eindruck der belgischen Constitution zurückzuführen und das Vorbild der Protestanten von Judens. Eleve. Berg und Mark und die ^ran anschließende Kirchenverfassungslehre eines Nitzsch und der ganzen so- Senannten Vermittlungstheologie zu übersehen. Die kirchlich ebenso wie poli¬ tisch unfruchtbare und verfahrene Regierungszeit Friedrich Wilhelm's IV. mit ^rechter Kritik durchwandernd, kommt der Verfasser zur Gegenwart und zu 'dren Versuchen, der preußischen Landeskirche eine neue Organisation zu geben. Er spricht mit Anerkennung von den Verfassungsvorlagen des Overkirchen- raths, erklärt die Forderung des Protestantenvereins, das kirchliche Wahl- und ^epräsentativrecht jedem zuzuerkennen, der aus der Landeskirche zufällig nicht ausgetreten, für eine höchst sonderbare, ja für die Eingebung eines liberalen "Fanatismus des Nonsens"; andrerseits erstaunt er über die unseren Kirchen- Verfassungsbestrebungen vermeintlich zu Grunde liegende Erwartung, „als würden die Mitglieder der Kirche in irgend einem Sinne und Grade wieder Mubig werden, wenn sie zur Mitbildung des Glaubens berufen würden." Von dem an sich gewiß unbestreitbaren Satz aus „Nicht mit Formen des Kirchenregiments ist der evangelischen Kirche zu helfen" geht der Verfasser endlich (Kap. X.) zu seinen eignen Reformideen über, von deren Verwirklichung Gttnjbotm II. 1876. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/253>, abgerufen am 27.11.2024.