Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.die Niemand gesaßt war. "Gestützt auf neue Eroberungen in den Massen, In dieser furchtbaren Lage lautet die Weisheit des fortschrittlichen die Niemand gesaßt war. „Gestützt auf neue Eroberungen in den Massen, In dieser furchtbaren Lage lautet die Weisheit des fortschrittlichen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135792"/> <p xml:id="ID_698" prev="#ID_697"> die Niemand gesaßt war. „Gestützt auf neue Eroberungen in den Massen,<lb/> gestützt auf die Eroberungen, welche im Kreise der Bildung die immer<lb/> wachsende Zerfahrenheit der geistigen Bestrebungen ihr von Tag zu Tage<lb/> reichlicher zuführt, gestützt auf einen Grad innerer Homogeneität und Dis¬<lb/> ciplin, wie er nie zuvor durch alle Ordnungen der Hierarchie erreicht worden,<lb/> hat die römische Kirche das Gefühl schöpfen müssen, daß ihr das Höchste, das<lb/> sie jemals erstrebt, gerade jetzt gelingen könne. Niemals flößte ihr die Bil¬<lb/> dung weniger Furcht ein, deren widerspruchsvolles Waffenarsenal Stück für<lb/> Stück in das Arsenal der Kirche verpflanzt und für den dortigen Gebrauch<lb/> aptirt werden kann. Niemals erschien ihr der Staat weniger schrecklich, der<lb/> die Begierden der Masse nur noch mechanisch zu zähmen versteht, in dessen<lb/> Reihen die Jünger einer Bildung kämpfen, die unter der Last ihrer Wider¬<lb/> sprüche von Tag zu Tage mehr erliegt und als deren letztes Wort die Ver¬<lb/> zweiflung am Dasein immer mehr angesehen wird." . .</p><lb/> <p xml:id="ID_699" next="#ID_700"> In dieser furchtbaren Lage lautet die Weisheit des fortschrittlichen<lb/> Liberalismus: „Trennung von Staat und Kirche." Das heißt den Katholi¬<lb/> cismus zugleich erlauben und verbieten, denn sich auf die rein innerliche,<lb/> geistliche Sphäre zu beschränken ist wider seine ganze Natur; wie aber soll<lb/> ihn der Staat lediglich mit äußerlichen Mitteln von seinem Gebiete vertreiben?<lb/> Auch die protestantische Orthodoxie hat sich neuerdings jene Losung für sich<lb/> angeeignet: sie hofft damit sich selbst als die allein legitime Herrscherin in<lb/> der evangelischen Kirche gegen alle künftigen Einwirkungen des Staates durch<lb/> dessen eignen Rechtsschutz sicher zu stellen. Allein die Trennung von Staat<lb/> und Kirche oder „Entstaatlichung" der letzteren, d. h. die Versetzung der<lb/> Kirchen aus der seitherigen öffentlichen, privilegirten, aber auch vom Staate<lb/> beeinflußten Stellung in die bloßer Privatvereine, würde die evangelische<lb/> Kirche zu einer auf schärfste Einseitigkeit gestellten, von Hülflosen Spaltungen<lb/> zerklüfteten und aus dem Zusammenhang des großen geistigen Lebens der<lb/> Nation fast ausgeschiedenen, ganz ohnmächtigen Gesellschaft machen, der vati-<lb/> canischen Kirche dagegen eine tödtliche Waffe gegen den Staat in die Hand<lb/> drücken. Denn nicht nur die evangelische Kirche kann die Entstaatlichung,<lb/> auch der Staat seinerseits kann die Entkirchlichung nicht ertragen. „Kein<lb/> Staat, keine (nothwendig) der größten Anstrengungen fähige Gemeinschaft ist<lb/> denkbar ohne einen Durchschnitt gleichartiger Bildung und Sittlichkeit." Wo<lb/> will nun der Liberalismus die Bürgschaften des einheitlichen Culturprincips<lb/> finden, ohne welches kein Staat bestehen kann? „Die Kreise, in denen ernste<lb/> Bildung wenigstens gesucht wird, sind darin einig, daß eine Nation lange<lb/> warten kann, die ihre Leitung in den höchsten Dingen von der beobachtenden<lb/> Wissenschaft erwartet. Die höchsten Fragen sind auch die dringendsten, und<lb/> jeder unbefangene Blick sieht, daß die beobachtende Wissenschaft von diesen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0211]
die Niemand gesaßt war. „Gestützt auf neue Eroberungen in den Massen,
gestützt auf die Eroberungen, welche im Kreise der Bildung die immer
wachsende Zerfahrenheit der geistigen Bestrebungen ihr von Tag zu Tage
reichlicher zuführt, gestützt auf einen Grad innerer Homogeneität und Dis¬
ciplin, wie er nie zuvor durch alle Ordnungen der Hierarchie erreicht worden,
hat die römische Kirche das Gefühl schöpfen müssen, daß ihr das Höchste, das
sie jemals erstrebt, gerade jetzt gelingen könne. Niemals flößte ihr die Bil¬
dung weniger Furcht ein, deren widerspruchsvolles Waffenarsenal Stück für
Stück in das Arsenal der Kirche verpflanzt und für den dortigen Gebrauch
aptirt werden kann. Niemals erschien ihr der Staat weniger schrecklich, der
die Begierden der Masse nur noch mechanisch zu zähmen versteht, in dessen
Reihen die Jünger einer Bildung kämpfen, die unter der Last ihrer Wider¬
sprüche von Tag zu Tage mehr erliegt und als deren letztes Wort die Ver¬
zweiflung am Dasein immer mehr angesehen wird." . .
In dieser furchtbaren Lage lautet die Weisheit des fortschrittlichen
Liberalismus: „Trennung von Staat und Kirche." Das heißt den Katholi¬
cismus zugleich erlauben und verbieten, denn sich auf die rein innerliche,
geistliche Sphäre zu beschränken ist wider seine ganze Natur; wie aber soll
ihn der Staat lediglich mit äußerlichen Mitteln von seinem Gebiete vertreiben?
Auch die protestantische Orthodoxie hat sich neuerdings jene Losung für sich
angeeignet: sie hofft damit sich selbst als die allein legitime Herrscherin in
der evangelischen Kirche gegen alle künftigen Einwirkungen des Staates durch
dessen eignen Rechtsschutz sicher zu stellen. Allein die Trennung von Staat
und Kirche oder „Entstaatlichung" der letzteren, d. h. die Versetzung der
Kirchen aus der seitherigen öffentlichen, privilegirten, aber auch vom Staate
beeinflußten Stellung in die bloßer Privatvereine, würde die evangelische
Kirche zu einer auf schärfste Einseitigkeit gestellten, von Hülflosen Spaltungen
zerklüfteten und aus dem Zusammenhang des großen geistigen Lebens der
Nation fast ausgeschiedenen, ganz ohnmächtigen Gesellschaft machen, der vati-
canischen Kirche dagegen eine tödtliche Waffe gegen den Staat in die Hand
drücken. Denn nicht nur die evangelische Kirche kann die Entstaatlichung,
auch der Staat seinerseits kann die Entkirchlichung nicht ertragen. „Kein
Staat, keine (nothwendig) der größten Anstrengungen fähige Gemeinschaft ist
denkbar ohne einen Durchschnitt gleichartiger Bildung und Sittlichkeit." Wo
will nun der Liberalismus die Bürgschaften des einheitlichen Culturprincips
finden, ohne welches kein Staat bestehen kann? „Die Kreise, in denen ernste
Bildung wenigstens gesucht wird, sind darin einig, daß eine Nation lange
warten kann, die ihre Leitung in den höchsten Dingen von der beobachtenden
Wissenschaft erwartet. Die höchsten Fragen sind auch die dringendsten, und
jeder unbefangene Blick sieht, daß die beobachtende Wissenschaft von diesen
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