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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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wieder. Seine Schwester wollte ihm das, als sie zurückkehrte, nicht glauben;
als sie aber seine hellen Augen sah, freute sie sich mit ihm.

Sie kamen nun überein, der Mutter von seiner Heilung nichts zu sagen.
Als Tutigak sich dem Hause näherte, sah er ein Bärenfell vor demselben zum
Trocknen aufgespannt. Vor der Thür lagen die Knochen, und als er in die
Hauptstube trat, erblickte er unter der Bank auch die Vordertatzen. Er aber
schloß die Augen, legte sich hin und that, als ob er schliefe. Dann fuhr er
plötzlich auf und sagte: "Mir träumte, es wäre ein Bärenfell vor dem Hause
aufgespannt." Die Mutter erwiderte: "Du mußt wohl an jemand gedacht
haben, der Dir vor einiger Zeit Unrecht gethan hat." Wieder stellte sich der
Sohn schlafend, und wieder fuhr er auf und sagte: "Mir träumte, es lägen
Bärenknochen vor dem Eingange." Die Alte wiederholte ihre vorige Ant¬
wort. Aber das dritte Mal, wo'der Sohn erwachte, sagte er: "Mir träumte,
ich sähe Bärentatzen unter der Bank liegen," und als die Mutter dieselbe
Antwort wie vorher gab, öffnete er plötzlich die Augen, zeigte auf die Tatzen
und fügte hinzu: "Mutter, ich meine diese," und jetzt wußte sie, daß er sein
Augenlicht wieder erlangt hatte, und so sagte sie: "Iß sie, iß sie nur."

Er ging nun wieder auf die Jagd. Nach einiger Zeit aber kam ihm
der Gedanke, sich an seiner bösen alten Mutter zu rächen. Die Zeit kam,
wo die weißen Walfische an der Küste erschienen, und er fing sie in folgender
Weise. Er ging mit seiner Schwester auf das Eis hinaus, und nachdem er
ihr seine Jagdleine um die Hüften befestigt hatte, warf er die an die Leine
befestigte Harpune in den Fisch. Dann zogen sie diesen mit einander auf das
Eis, wo sie ihn tödteten. Eines Tages fragte er aus dem Heimwege seine
Schwester: "Liebst Du unsere alte Mutter?" Nayagta antwortete erst nicht,
dann sagte sie: "Ich liebe nur Dich." "Nun, denn," erwiderte Tutigak, "so
soll sie uns morgen zum Fischfang dienen. Ich will es ihr bezahlen, daß
sie mich geblendet hat." Sie gingen nun ins Haus, wo sie die Mutter beim
Stiefelflicken fanden, und er sagte: "Ach, wie müde sind wir doch vom Her¬
ausholen der Fische! Laß doch morgen Nayagta ausruhen und diene mir
beim Fange wie sie. Ich denke, Du kannst Dich auf den Füßen erhalten,
wenn der Fisch an der Leine zieht." Die Mutter sagte, ja, und so gingen
sie am nächsten Morgen auf das Eis. Zuerst kamen kleine Fische, und sie
rief ihm zu, den kleinsten zu Harpuniren. Er aber sagte: "Der ist noch
immer zu groß." In demselben Augenblicke jedoch erschien einer der größten
an der Oberfläche, und er schleuderte seinen Wurfspieß und ließ zugleich die
Leine fahren, mit welcher der Walfisch nun die Mutter nach dem Rande des
Wassers hinzog. Als sie demselben ganz nahe gekommen war, rief er ihr zu:
"Erinnerst Du Dich, wie Du mich blind machtest?" und während sie sich
stemmte, schob er sie weiter, indem er sagte: "Dieser Bursche wird mich


wieder. Seine Schwester wollte ihm das, als sie zurückkehrte, nicht glauben;
als sie aber seine hellen Augen sah, freute sie sich mit ihm.

Sie kamen nun überein, der Mutter von seiner Heilung nichts zu sagen.
Als Tutigak sich dem Hause näherte, sah er ein Bärenfell vor demselben zum
Trocknen aufgespannt. Vor der Thür lagen die Knochen, und als er in die
Hauptstube trat, erblickte er unter der Bank auch die Vordertatzen. Er aber
schloß die Augen, legte sich hin und that, als ob er schliefe. Dann fuhr er
plötzlich auf und sagte: „Mir träumte, es wäre ein Bärenfell vor dem Hause
aufgespannt." Die Mutter erwiderte: „Du mußt wohl an jemand gedacht
haben, der Dir vor einiger Zeit Unrecht gethan hat." Wieder stellte sich der
Sohn schlafend, und wieder fuhr er auf und sagte: „Mir träumte, es lägen
Bärenknochen vor dem Eingange." Die Alte wiederholte ihre vorige Ant¬
wort. Aber das dritte Mal, wo'der Sohn erwachte, sagte er: „Mir träumte,
ich sähe Bärentatzen unter der Bank liegen," und als die Mutter dieselbe
Antwort wie vorher gab, öffnete er plötzlich die Augen, zeigte auf die Tatzen
und fügte hinzu: „Mutter, ich meine diese," und jetzt wußte sie, daß er sein
Augenlicht wieder erlangt hatte, und so sagte sie: „Iß sie, iß sie nur."

Er ging nun wieder auf die Jagd. Nach einiger Zeit aber kam ihm
der Gedanke, sich an seiner bösen alten Mutter zu rächen. Die Zeit kam,
wo die weißen Walfische an der Küste erschienen, und er fing sie in folgender
Weise. Er ging mit seiner Schwester auf das Eis hinaus, und nachdem er
ihr seine Jagdleine um die Hüften befestigt hatte, warf er die an die Leine
befestigte Harpune in den Fisch. Dann zogen sie diesen mit einander auf das
Eis, wo sie ihn tödteten. Eines Tages fragte er aus dem Heimwege seine
Schwester: „Liebst Du unsere alte Mutter?" Nayagta antwortete erst nicht,
dann sagte sie: „Ich liebe nur Dich." „Nun, denn," erwiderte Tutigak, „so
soll sie uns morgen zum Fischfang dienen. Ich will es ihr bezahlen, daß
sie mich geblendet hat." Sie gingen nun ins Haus, wo sie die Mutter beim
Stiefelflicken fanden, und er sagte: „Ach, wie müde sind wir doch vom Her¬
ausholen der Fische! Laß doch morgen Nayagta ausruhen und diene mir
beim Fange wie sie. Ich denke, Du kannst Dich auf den Füßen erhalten,
wenn der Fisch an der Leine zieht." Die Mutter sagte, ja, und so gingen
sie am nächsten Morgen auf das Eis. Zuerst kamen kleine Fische, und sie
rief ihm zu, den kleinsten zu Harpuniren. Er aber sagte: „Der ist noch
immer zu groß." In demselben Augenblicke jedoch erschien einer der größten
an der Oberfläche, und er schleuderte seinen Wurfspieß und ließ zugleich die
Leine fahren, mit welcher der Walfisch nun die Mutter nach dem Rande des
Wassers hinzog. Als sie demselben ganz nahe gekommen war, rief er ihr zu:
„Erinnerst Du Dich, wie Du mich blind machtest?" und während sie sich
stemmte, schob er sie weiter, indem er sagte: „Dieser Bursche wird mich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/180>, abgerufen am 27.11.2024.