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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Ihre Lieder, von denen Rink gleichfalls einige Proben giebt, zeigen uns die
Poesie in den Kinderschuhen. Ihre Sprache, zu den polysynthetischen gehörig,
ist arm, ihre Religion ein düstrer wirrer Glaube an menschenfeindliche Gespenster
und an Schutzgeister, die man sich mit Zauberbräuchen gewinnen kann. Kurzum,
sie würden uns den Menschen nicht fern vom Urzustande zeigen, wenn sie
nicht Häuser zu bauen, Thiere (Hunde) zum Ziehen abzurichten und sehr
zweckmäßige Boote zu zimmern und vortrefflich zu gebrauchen verstünden.
In geistiger Beziehung nehmen sie aber einen Standpunkt ein, wie ihn schon
die alten Höhlenmenschen erreicht haben könnten, von denen Dawkins sie ab¬
stammen läßt. Die Sprache der letzteren wird noch ärmer an Begriffsaus¬
drücken und Beziehungsformen gewesen sein, als die ihrer Nachkommen am
Nordpol, ihre Religion noch roher und dunkler; ihre Leistungen auf dem
Felde der Zeichnung und Skulptur aber erlauben wohl den Schluß, daß sie
wie in diesen auch in der Poesie mindestens soweit wie die Eskimo gewesen
sind, und wenn sie gleich diesen, wie vielleicht nach den großen Massen von
Knochen geschlossen werden darf, die man in den von ihnen bewohnten Höhlen
gefunden hat, schon zu einer Bereinigung mehrerer Familien zu dauerndem
oder vorübergehendem Verband, Hausgenossenschaft oder Volksversammlung,
fortgeschritten waren, so ist wohl selbst die Möglichkeit nicht völlig ausge¬
schlossen, daß einige von den ältesten Sagen und Mythen Rink's in ihrem
Kern schon unter ihnen erzählt wurden. Wissen wir doch, daß ein großer
Theil unsrer Sagen, unsrer Märchen und Schwänke, unsrer Anekdoten sogar,
schon vor der Auswanderung der Arier aus Indien existirt haben.

Die Sagen der Eskimo werden von Rink in alte und neue eingetheilt.
Jene sind Eigenthum der ganzen Nation, und da die südwestlichsten Eskimo
von den südöstlichsten zweitausend englische Meilen entfernt wohnen und
durch unzugängliche Berg- und Eiswüsten getrennt sind, so müssen diese
Sagen in einer Urzeit entstanden sein, wo eine solche Trennung nicht statt¬
fand. Ueberall giebt es Leute, welche diese Erzählungen gewissermaßen
professionsmäßig vortragen, aber nie dulden die Zuhörer, daß sie dabei von
der hergebrachten Form in wesentlichen Dingen abweichen, und so erklärt
sich's, daß dieselbe sich nie ändert und vermuthlich nie geändert hat. Diese
Sagenüberlieserung würde dem Einflüsse der Jahrhunderte auf die weitzer¬
streuten und isolirten Stämme nicht widerstanden haben, wenn sie nicht eins
der wichtigsten Mittel zur Erhaltung ihres nationalen Lebens gewesen wäre.
Sie enthält alles, was sie an intellectuellen und moralischem Eigenthum be¬
sitzen. Von ihrem Ursprung und ihrer Geschichte aber ist, von einigen Mythen
über weite Seefahrten und jenen Anspielungen auf die Ausrottung der
amerikanischen Skandinavier abgesehen, in ihnen nichts zu finden. Wenn
fremde Völker oder den Eskimo unbekannte Thiere in der Urform der Sage


Ihre Lieder, von denen Rink gleichfalls einige Proben giebt, zeigen uns die
Poesie in den Kinderschuhen. Ihre Sprache, zu den polysynthetischen gehörig,
ist arm, ihre Religion ein düstrer wirrer Glaube an menschenfeindliche Gespenster
und an Schutzgeister, die man sich mit Zauberbräuchen gewinnen kann. Kurzum,
sie würden uns den Menschen nicht fern vom Urzustande zeigen, wenn sie
nicht Häuser zu bauen, Thiere (Hunde) zum Ziehen abzurichten und sehr
zweckmäßige Boote zu zimmern und vortrefflich zu gebrauchen verstünden.
In geistiger Beziehung nehmen sie aber einen Standpunkt ein, wie ihn schon
die alten Höhlenmenschen erreicht haben könnten, von denen Dawkins sie ab¬
stammen läßt. Die Sprache der letzteren wird noch ärmer an Begriffsaus¬
drücken und Beziehungsformen gewesen sein, als die ihrer Nachkommen am
Nordpol, ihre Religion noch roher und dunkler; ihre Leistungen auf dem
Felde der Zeichnung und Skulptur aber erlauben wohl den Schluß, daß sie
wie in diesen auch in der Poesie mindestens soweit wie die Eskimo gewesen
sind, und wenn sie gleich diesen, wie vielleicht nach den großen Massen von
Knochen geschlossen werden darf, die man in den von ihnen bewohnten Höhlen
gefunden hat, schon zu einer Bereinigung mehrerer Familien zu dauerndem
oder vorübergehendem Verband, Hausgenossenschaft oder Volksversammlung,
fortgeschritten waren, so ist wohl selbst die Möglichkeit nicht völlig ausge¬
schlossen, daß einige von den ältesten Sagen und Mythen Rink's in ihrem
Kern schon unter ihnen erzählt wurden. Wissen wir doch, daß ein großer
Theil unsrer Sagen, unsrer Märchen und Schwänke, unsrer Anekdoten sogar,
schon vor der Auswanderung der Arier aus Indien existirt haben.

Die Sagen der Eskimo werden von Rink in alte und neue eingetheilt.
Jene sind Eigenthum der ganzen Nation, und da die südwestlichsten Eskimo
von den südöstlichsten zweitausend englische Meilen entfernt wohnen und
durch unzugängliche Berg- und Eiswüsten getrennt sind, so müssen diese
Sagen in einer Urzeit entstanden sein, wo eine solche Trennung nicht statt¬
fand. Ueberall giebt es Leute, welche diese Erzählungen gewissermaßen
professionsmäßig vortragen, aber nie dulden die Zuhörer, daß sie dabei von
der hergebrachten Form in wesentlichen Dingen abweichen, und so erklärt
sich's, daß dieselbe sich nie ändert und vermuthlich nie geändert hat. Diese
Sagenüberlieserung würde dem Einflüsse der Jahrhunderte auf die weitzer¬
streuten und isolirten Stämme nicht widerstanden haben, wenn sie nicht eins
der wichtigsten Mittel zur Erhaltung ihres nationalen Lebens gewesen wäre.
Sie enthält alles, was sie an intellectuellen und moralischem Eigenthum be¬
sitzen. Von ihrem Ursprung und ihrer Geschichte aber ist, von einigen Mythen
über weite Seefahrten und jenen Anspielungen auf die Ausrottung der
amerikanischen Skandinavier abgesehen, in ihnen nichts zu finden. Wenn
fremde Völker oder den Eskimo unbekannte Thiere in der Urform der Sage


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[0170] Ihre Lieder, von denen Rink gleichfalls einige Proben giebt, zeigen uns die Poesie in den Kinderschuhen. Ihre Sprache, zu den polysynthetischen gehörig, ist arm, ihre Religion ein düstrer wirrer Glaube an menschenfeindliche Gespenster und an Schutzgeister, die man sich mit Zauberbräuchen gewinnen kann. Kurzum, sie würden uns den Menschen nicht fern vom Urzustande zeigen, wenn sie nicht Häuser zu bauen, Thiere (Hunde) zum Ziehen abzurichten und sehr zweckmäßige Boote zu zimmern und vortrefflich zu gebrauchen verstünden. In geistiger Beziehung nehmen sie aber einen Standpunkt ein, wie ihn schon die alten Höhlenmenschen erreicht haben könnten, von denen Dawkins sie ab¬ stammen läßt. Die Sprache der letzteren wird noch ärmer an Begriffsaus¬ drücken und Beziehungsformen gewesen sein, als die ihrer Nachkommen am Nordpol, ihre Religion noch roher und dunkler; ihre Leistungen auf dem Felde der Zeichnung und Skulptur aber erlauben wohl den Schluß, daß sie wie in diesen auch in der Poesie mindestens soweit wie die Eskimo gewesen sind, und wenn sie gleich diesen, wie vielleicht nach den großen Massen von Knochen geschlossen werden darf, die man in den von ihnen bewohnten Höhlen gefunden hat, schon zu einer Bereinigung mehrerer Familien zu dauerndem oder vorübergehendem Verband, Hausgenossenschaft oder Volksversammlung, fortgeschritten waren, so ist wohl selbst die Möglichkeit nicht völlig ausge¬ schlossen, daß einige von den ältesten Sagen und Mythen Rink's in ihrem Kern schon unter ihnen erzählt wurden. Wissen wir doch, daß ein großer Theil unsrer Sagen, unsrer Märchen und Schwänke, unsrer Anekdoten sogar, schon vor der Auswanderung der Arier aus Indien existirt haben. Die Sagen der Eskimo werden von Rink in alte und neue eingetheilt. Jene sind Eigenthum der ganzen Nation, und da die südwestlichsten Eskimo von den südöstlichsten zweitausend englische Meilen entfernt wohnen und durch unzugängliche Berg- und Eiswüsten getrennt sind, so müssen diese Sagen in einer Urzeit entstanden sein, wo eine solche Trennung nicht statt¬ fand. Ueberall giebt es Leute, welche diese Erzählungen gewissermaßen professionsmäßig vortragen, aber nie dulden die Zuhörer, daß sie dabei von der hergebrachten Form in wesentlichen Dingen abweichen, und so erklärt sich's, daß dieselbe sich nie ändert und vermuthlich nie geändert hat. Diese Sagenüberlieserung würde dem Einflüsse der Jahrhunderte auf die weitzer¬ streuten und isolirten Stämme nicht widerstanden haben, wenn sie nicht eins der wichtigsten Mittel zur Erhaltung ihres nationalen Lebens gewesen wäre. Sie enthält alles, was sie an intellectuellen und moralischem Eigenthum be¬ sitzen. Von ihrem Ursprung und ihrer Geschichte aber ist, von einigen Mythen über weite Seefahrten und jenen Anspielungen auf die Ausrottung der amerikanischen Skandinavier abgesehen, in ihnen nichts zu finden. Wenn fremde Völker oder den Eskimo unbekannte Thiere in der Urform der Sage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/170>, abgerufen am 27.11.2024.