Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zeugniß gelten, daß in diesem numerisch kleinen, erlesenen Kreis nun auch alle
und jede Theilnahme an volkswirtschaftlichen Gegenständen als absolut ge¬
bannt zu betrachten wäre. Versuchen wir es doch nur einmal, beim größeren
Publikum den Appetit zu reizen. Setzen wir den Fall, dem geplanten
Centralorgane gelänge es zunächst blos, ein halbes Dutzend "Tageblätter"
und "Neueste Nachrichten" zu bestimmen, ihren Lesern nacheinander einige
seiner Artikel beim Morgenkaffee einzuflößen, untermischt mit den ihnen ge¬
wohnten Lesefrüchten, so würde sich darunter doch muthmaßlich bald eine An¬
zahl Leute finden, die nach weiterer, gründlicherer Belehrung verlangte.
Für dieses Bedürfniß müßte gesorgt werden durch Empfehlung geeigneter
Zeitschriften und Bücher, das Centralorgan könnte sich mit kurzen Anre¬
gungen begnügen, auch etwaige Sticheleien, wie "feuilletonistische Oberfläch¬
lichkeit" :c. über sich ergehen lassen.

Jede Agitation beginnt klein, unscheinbar, ist zunächst auf enge Kreise
beschränkt, gewinnt aber nach und nach -- das haben wir so häufig in
Amerika, in England, in Deutschland und anderwärts gesehen -- an Boden.
Stütze sie sich auf menschliche Vorurtheile, Thorheiten, Leidenschaften, so hat
sie natürlich viel leichteres Spiel: Quacksalbereien, politische und wirthschaftliche
wie medicinische, haben, wie alles Unkraut und alle Organismen niederer
Gattung, eine stärkere Fortpflanzungskraft. Aber auch für gute, vernünftige
Zwecke ist eine Thätigkeit, selbst unter ungünstigsten Umständen, nie aus¬
sichtlos, sofern sie nur Kraft und Ausdauer besitzt. Goethe mahnt:


Immer rüstig, immer thätig, strebe nicht nach großen Dingen,
Wirke nur im Kleinen stetig, so wird Großes dir gelingen.

Nicht völlig aber theilweise erklärt sich das geringe Interesse des Publi¬
kums durch die Teilnahmlosigkeit der politischen Presse, und zwar ganz be¬
sonders der liberalen. Die großen, tonangebenden Zeitungen gehen voran,
die andern folgen nach. Fast ohne Ausnahme begnügen sie sich mit kurzen
Meldungen in Petitschrift und in den dunkelsten Ecken der Blätter, daß in
N. ein Strike ausgebrochen oder beigelegt, in U- eine Parteiversammlung
polizeilich aufgelöst, so u. so viel Wahlstimmen in Z. auf das Parteimitglied
A. gefallen sind, Hr. B.. eine "agitatorische Kraft", in C. verhaftet wurde;
dann und wann schlüpft wohl auch ein Curiosum aus einer Kraftrede von
3--4 Zeilen ein. Das ist Alles. Nichts von einigermaßen eingehenden Nach¬
richten über das Treiben der Propaganda in den verschiedenen Gebieten, und
ihrer Presse, geschweige von Polemik dagegen, oder gar nähere Mittheilungen
über hier und da auftauchende Versuche von Arbeitgebern, die Lage ihrer
Arbeiter zu verbessern, oder von Erörterung einschlägiger Fragen. Als ob
Alles und Jedes, was in jenen Schriften steht, lediglich "alte, abgethane Ge-


Zeugniß gelten, daß in diesem numerisch kleinen, erlesenen Kreis nun auch alle
und jede Theilnahme an volkswirtschaftlichen Gegenständen als absolut ge¬
bannt zu betrachten wäre. Versuchen wir es doch nur einmal, beim größeren
Publikum den Appetit zu reizen. Setzen wir den Fall, dem geplanten
Centralorgane gelänge es zunächst blos, ein halbes Dutzend „Tageblätter"
und „Neueste Nachrichten" zu bestimmen, ihren Lesern nacheinander einige
seiner Artikel beim Morgenkaffee einzuflößen, untermischt mit den ihnen ge¬
wohnten Lesefrüchten, so würde sich darunter doch muthmaßlich bald eine An¬
zahl Leute finden, die nach weiterer, gründlicherer Belehrung verlangte.
Für dieses Bedürfniß müßte gesorgt werden durch Empfehlung geeigneter
Zeitschriften und Bücher, das Centralorgan könnte sich mit kurzen Anre¬
gungen begnügen, auch etwaige Sticheleien, wie „feuilletonistische Oberfläch¬
lichkeit" :c. über sich ergehen lassen.

Jede Agitation beginnt klein, unscheinbar, ist zunächst auf enge Kreise
beschränkt, gewinnt aber nach und nach — das haben wir so häufig in
Amerika, in England, in Deutschland und anderwärts gesehen — an Boden.
Stütze sie sich auf menschliche Vorurtheile, Thorheiten, Leidenschaften, so hat
sie natürlich viel leichteres Spiel: Quacksalbereien, politische und wirthschaftliche
wie medicinische, haben, wie alles Unkraut und alle Organismen niederer
Gattung, eine stärkere Fortpflanzungskraft. Aber auch für gute, vernünftige
Zwecke ist eine Thätigkeit, selbst unter ungünstigsten Umständen, nie aus¬
sichtlos, sofern sie nur Kraft und Ausdauer besitzt. Goethe mahnt:


Immer rüstig, immer thätig, strebe nicht nach großen Dingen,
Wirke nur im Kleinen stetig, so wird Großes dir gelingen.

Nicht völlig aber theilweise erklärt sich das geringe Interesse des Publi¬
kums durch die Teilnahmlosigkeit der politischen Presse, und zwar ganz be¬
sonders der liberalen. Die großen, tonangebenden Zeitungen gehen voran,
die andern folgen nach. Fast ohne Ausnahme begnügen sie sich mit kurzen
Meldungen in Petitschrift und in den dunkelsten Ecken der Blätter, daß in
N. ein Strike ausgebrochen oder beigelegt, in U- eine Parteiversammlung
polizeilich aufgelöst, so u. so viel Wahlstimmen in Z. auf das Parteimitglied
A. gefallen sind, Hr. B.. eine „agitatorische Kraft", in C. verhaftet wurde;
dann und wann schlüpft wohl auch ein Curiosum aus einer Kraftrede von
3—4 Zeilen ein. Das ist Alles. Nichts von einigermaßen eingehenden Nach¬
richten über das Treiben der Propaganda in den verschiedenen Gebieten, und
ihrer Presse, geschweige von Polemik dagegen, oder gar nähere Mittheilungen
über hier und da auftauchende Versuche von Arbeitgebern, die Lage ihrer
Arbeiter zu verbessern, oder von Erörterung einschlägiger Fragen. Als ob
Alles und Jedes, was in jenen Schriften steht, lediglich »alte, abgethane Ge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0105" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135686"/>
          <p xml:id="ID_396" prev="#ID_395"> Zeugniß gelten, daß in diesem numerisch kleinen, erlesenen Kreis nun auch alle<lb/>
und jede Theilnahme an volkswirtschaftlichen Gegenständen als absolut ge¬<lb/>
bannt zu betrachten wäre. Versuchen wir es doch nur einmal, beim größeren<lb/>
Publikum den Appetit zu reizen. Setzen wir den Fall, dem geplanten<lb/>
Centralorgane gelänge es zunächst blos, ein halbes Dutzend &#x201E;Tageblätter"<lb/>
und &#x201E;Neueste Nachrichten" zu bestimmen, ihren Lesern nacheinander einige<lb/>
seiner Artikel beim Morgenkaffee einzuflößen, untermischt mit den ihnen ge¬<lb/>
wohnten Lesefrüchten, so würde sich darunter doch muthmaßlich bald eine An¬<lb/>
zahl Leute finden, die nach weiterer, gründlicherer Belehrung verlangte.<lb/>
Für dieses Bedürfniß müßte gesorgt werden durch Empfehlung geeigneter<lb/>
Zeitschriften und Bücher, das Centralorgan könnte sich mit kurzen Anre¬<lb/>
gungen begnügen, auch etwaige Sticheleien, wie &#x201E;feuilletonistische Oberfläch¬<lb/>
lichkeit" :c. über sich ergehen lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_397"> Jede Agitation beginnt klein, unscheinbar, ist zunächst auf enge Kreise<lb/>
beschränkt, gewinnt aber nach und nach &#x2014; das haben wir so häufig in<lb/>
Amerika, in England, in Deutschland und anderwärts gesehen &#x2014; an Boden.<lb/>
Stütze sie sich auf menschliche Vorurtheile, Thorheiten, Leidenschaften, so hat<lb/>
sie natürlich viel leichteres Spiel: Quacksalbereien, politische und wirthschaftliche<lb/>
wie medicinische, haben, wie alles Unkraut und alle Organismen niederer<lb/>
Gattung, eine stärkere Fortpflanzungskraft. Aber auch für gute, vernünftige<lb/>
Zwecke ist eine Thätigkeit, selbst unter ungünstigsten Umständen, nie aus¬<lb/>
sichtlos, sofern sie nur Kraft und Ausdauer besitzt. Goethe mahnt:</p><lb/>
          <quote> Immer rüstig, immer thätig, strebe nicht nach großen Dingen,<lb/>
Wirke nur im Kleinen stetig, so wird Großes dir gelingen.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_398" next="#ID_399"> Nicht völlig aber theilweise erklärt sich das geringe Interesse des Publi¬<lb/>
kums durch die Teilnahmlosigkeit der politischen Presse, und zwar ganz be¬<lb/>
sonders der liberalen. Die großen, tonangebenden Zeitungen gehen voran,<lb/>
die andern folgen nach. Fast ohne Ausnahme begnügen sie sich mit kurzen<lb/>
Meldungen in Petitschrift und in den dunkelsten Ecken der Blätter, daß in<lb/>
N. ein Strike ausgebrochen oder beigelegt, in U- eine Parteiversammlung<lb/>
polizeilich aufgelöst, so u. so viel Wahlstimmen in Z. auf das Parteimitglied<lb/>
A. gefallen sind, Hr. B.. eine &#x201E;agitatorische Kraft", in C. verhaftet wurde;<lb/>
dann und wann schlüpft wohl auch ein Curiosum aus einer Kraftrede von<lb/>
3&#x2014;4 Zeilen ein. Das ist Alles. Nichts von einigermaßen eingehenden Nach¬<lb/>
richten über das Treiben der Propaganda in den verschiedenen Gebieten, und<lb/>
ihrer Presse, geschweige von Polemik dagegen, oder gar nähere Mittheilungen<lb/>
über hier und da auftauchende Versuche von Arbeitgebern, die Lage ihrer<lb/>
Arbeiter zu verbessern, oder von Erörterung einschlägiger Fragen. Als ob<lb/>
Alles und Jedes, was in jenen Schriften steht, lediglich »alte, abgethane Ge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0105] Zeugniß gelten, daß in diesem numerisch kleinen, erlesenen Kreis nun auch alle und jede Theilnahme an volkswirtschaftlichen Gegenständen als absolut ge¬ bannt zu betrachten wäre. Versuchen wir es doch nur einmal, beim größeren Publikum den Appetit zu reizen. Setzen wir den Fall, dem geplanten Centralorgane gelänge es zunächst blos, ein halbes Dutzend „Tageblätter" und „Neueste Nachrichten" zu bestimmen, ihren Lesern nacheinander einige seiner Artikel beim Morgenkaffee einzuflößen, untermischt mit den ihnen ge¬ wohnten Lesefrüchten, so würde sich darunter doch muthmaßlich bald eine An¬ zahl Leute finden, die nach weiterer, gründlicherer Belehrung verlangte. Für dieses Bedürfniß müßte gesorgt werden durch Empfehlung geeigneter Zeitschriften und Bücher, das Centralorgan könnte sich mit kurzen Anre¬ gungen begnügen, auch etwaige Sticheleien, wie „feuilletonistische Oberfläch¬ lichkeit" :c. über sich ergehen lassen. Jede Agitation beginnt klein, unscheinbar, ist zunächst auf enge Kreise beschränkt, gewinnt aber nach und nach — das haben wir so häufig in Amerika, in England, in Deutschland und anderwärts gesehen — an Boden. Stütze sie sich auf menschliche Vorurtheile, Thorheiten, Leidenschaften, so hat sie natürlich viel leichteres Spiel: Quacksalbereien, politische und wirthschaftliche wie medicinische, haben, wie alles Unkraut und alle Organismen niederer Gattung, eine stärkere Fortpflanzungskraft. Aber auch für gute, vernünftige Zwecke ist eine Thätigkeit, selbst unter ungünstigsten Umständen, nie aus¬ sichtlos, sofern sie nur Kraft und Ausdauer besitzt. Goethe mahnt: Immer rüstig, immer thätig, strebe nicht nach großen Dingen, Wirke nur im Kleinen stetig, so wird Großes dir gelingen. Nicht völlig aber theilweise erklärt sich das geringe Interesse des Publi¬ kums durch die Teilnahmlosigkeit der politischen Presse, und zwar ganz be¬ sonders der liberalen. Die großen, tonangebenden Zeitungen gehen voran, die andern folgen nach. Fast ohne Ausnahme begnügen sie sich mit kurzen Meldungen in Petitschrift und in den dunkelsten Ecken der Blätter, daß in N. ein Strike ausgebrochen oder beigelegt, in U- eine Parteiversammlung polizeilich aufgelöst, so u. so viel Wahlstimmen in Z. auf das Parteimitglied A. gefallen sind, Hr. B.. eine „agitatorische Kraft", in C. verhaftet wurde; dann und wann schlüpft wohl auch ein Curiosum aus einer Kraftrede von 3—4 Zeilen ein. Das ist Alles. Nichts von einigermaßen eingehenden Nach¬ richten über das Treiben der Propaganda in den verschiedenen Gebieten, und ihrer Presse, geschweige von Polemik dagegen, oder gar nähere Mittheilungen über hier und da auftauchende Versuche von Arbeitgebern, die Lage ihrer Arbeiter zu verbessern, oder von Erörterung einschlägiger Fragen. Als ob Alles und Jedes, was in jenen Schriften steht, lediglich »alte, abgethane Ge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/105
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/105>, abgerufen am 27.11.2024.