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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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darüber zu Theil werden, und ich bin bereit, mehr zu hören." Er glaube
auch, daß wir durch " offne Discussion im Hause und ganz besonders
in der Presse uns Waffen in die Hand geben, den Gründen gegen sociali¬
stische Utopien mehr Gewähr und Publicität verschaffen können".

Unzweifelhaft hat unser leitender Staatsmann recht, daß es in diesem
Stile nicht fortgehen darf, und daß die deutsche Presse, die große, kleine und
kleinste, sich der Angelegenheit mehr widmen muß.

Wie unter bewandten Umständen in den tieferen Bevölkerungsschichten
bei kleinen Industriellen und ihrem Anhang, Händlern, Handwerkern, Gesellen,
Lehrlingen, Arbeitern die Dinge weiter verlaufen, verlaufen müssen, erräth
leicht auch Einer, der es nie mit angesehen und gehört hat.

In der Regel findet zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern kein Ideen¬
austausch statt über allgemeine socialistische Grundsätze, und Erstere spüren nur
gelegentlich aus störrischen Benehmen und halben Worten der Leute, welchen
Einflüssen sie ihr Ohr geliehen haben. Das ist nicht anders zu erwarten,
denn der einzelne Arbeitnehmer weiß oder ahnt, daß hier die empfindlichste
Stelle seines Brodherrn liegt und fühlt sehr wohl die Schwäche seiner Stel¬
lung jenem oder dessen Vertreter gegenüber. Kühnheit, Standhaftigkeit, Trotz
erwachen im Untergebenen erst, oder gelangen doch wenigstens dann erst zum
Ausdruck, wenn er größere Parteigruppen neben sich weiß, wie bei Strikes.
Minder häufig, aber doch nicht selten, entspinnen sich jedoch auch Gespräche
über diese Dinge, und da geht es denn meistens wieder so zu, wie sich vor¬
aussehen läßt. Anstatt daß der Meister den Gesellen, der Werkführer dem
Arbeiter, der Factor dem Setzer, der Prinzipal dem Gehilfen die richtigen
Antworten zu geben weiß, wenn dieser seine Parteistichwörter und Phrasen
vorbringt, wie "reiche Leute und Freunde der armen Leute, die es gut mit
ihnen meinen", "ungerechte Vertheilung der Güter" ;c., "belehrt" der aufge¬
weckte Gesell den Meister, der Arbeiter den Werkführer, der Gehilfe den
Prinzipal, der Setzer den Factor über menschenwürdige Existenz, freiheitliche
Entwickelung der Neuzeit, Volksvampyre und Schmarotzer:c., denn der Unter¬
gebene ist bereits dialektisch geschult und der Vorgesetzte steht (wie die Ameri¬
kaner sagen) "genonplust" vor ihm.

Der Arbeiter liest, wenn er überhaupt liest, nur seine Hetzblätter, die ihm
drei, vier oder sechs mal wöchentlich jene "geistige Nahrung" einlöffeln, über
deren Beschaffenheit von hundert Bürgern 99 soviel als nichts wissen. "Wozu
das ewige Geschimpfe lesen? Das sind ja alte Geschichten, die imer neu auf¬
gewärmt werden. Ich ärgere mich und thun kann ich nichts dagegen." --

Gewiß, wäre hier zu erwidern, kannst Du etwas dagegen thun, eben
Du, Du Fabrikherr, Werkführer, Meister, Prinzipal, und zwar kannst Du
mehr thun, als selbst der Staat mit seiner Polizei, mehr als der Reichstag


Grenzboten II. 1876. 13

darüber zu Theil werden, und ich bin bereit, mehr zu hören." Er glaube
auch, daß wir durch „ offne Discussion im Hause und ganz besonders
in der Presse uns Waffen in die Hand geben, den Gründen gegen sociali¬
stische Utopien mehr Gewähr und Publicität verschaffen können".

Unzweifelhaft hat unser leitender Staatsmann recht, daß es in diesem
Stile nicht fortgehen darf, und daß die deutsche Presse, die große, kleine und
kleinste, sich der Angelegenheit mehr widmen muß.

Wie unter bewandten Umständen in den tieferen Bevölkerungsschichten
bei kleinen Industriellen und ihrem Anhang, Händlern, Handwerkern, Gesellen,
Lehrlingen, Arbeitern die Dinge weiter verlaufen, verlaufen müssen, erräth
leicht auch Einer, der es nie mit angesehen und gehört hat.

In der Regel findet zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern kein Ideen¬
austausch statt über allgemeine socialistische Grundsätze, und Erstere spüren nur
gelegentlich aus störrischen Benehmen und halben Worten der Leute, welchen
Einflüssen sie ihr Ohr geliehen haben. Das ist nicht anders zu erwarten,
denn der einzelne Arbeitnehmer weiß oder ahnt, daß hier die empfindlichste
Stelle seines Brodherrn liegt und fühlt sehr wohl die Schwäche seiner Stel¬
lung jenem oder dessen Vertreter gegenüber. Kühnheit, Standhaftigkeit, Trotz
erwachen im Untergebenen erst, oder gelangen doch wenigstens dann erst zum
Ausdruck, wenn er größere Parteigruppen neben sich weiß, wie bei Strikes.
Minder häufig, aber doch nicht selten, entspinnen sich jedoch auch Gespräche
über diese Dinge, und da geht es denn meistens wieder so zu, wie sich vor¬
aussehen läßt. Anstatt daß der Meister den Gesellen, der Werkführer dem
Arbeiter, der Factor dem Setzer, der Prinzipal dem Gehilfen die richtigen
Antworten zu geben weiß, wenn dieser seine Parteistichwörter und Phrasen
vorbringt, wie „reiche Leute und Freunde der armen Leute, die es gut mit
ihnen meinen", „ungerechte Vertheilung der Güter" ;c., „belehrt" der aufge¬
weckte Gesell den Meister, der Arbeiter den Werkführer, der Gehilfe den
Prinzipal, der Setzer den Factor über menschenwürdige Existenz, freiheitliche
Entwickelung der Neuzeit, Volksvampyre und Schmarotzer:c., denn der Unter¬
gebene ist bereits dialektisch geschult und der Vorgesetzte steht (wie die Ameri¬
kaner sagen) „genonplust" vor ihm.

Der Arbeiter liest, wenn er überhaupt liest, nur seine Hetzblätter, die ihm
drei, vier oder sechs mal wöchentlich jene „geistige Nahrung" einlöffeln, über
deren Beschaffenheit von hundert Bürgern 99 soviel als nichts wissen. „Wozu
das ewige Geschimpfe lesen? Das sind ja alte Geschichten, die imer neu auf¬
gewärmt werden. Ich ärgere mich und thun kann ich nichts dagegen." —

Gewiß, wäre hier zu erwidern, kannst Du etwas dagegen thun, eben
Du, Du Fabrikherr, Werkführer, Meister, Prinzipal, und zwar kannst Du
mehr thun, als selbst der Staat mit seiner Polizei, mehr als der Reichstag


Grenzboten II. 1876. 13
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[0101] darüber zu Theil werden, und ich bin bereit, mehr zu hören." Er glaube auch, daß wir durch „ offne Discussion im Hause und ganz besonders in der Presse uns Waffen in die Hand geben, den Gründen gegen sociali¬ stische Utopien mehr Gewähr und Publicität verschaffen können". Unzweifelhaft hat unser leitender Staatsmann recht, daß es in diesem Stile nicht fortgehen darf, und daß die deutsche Presse, die große, kleine und kleinste, sich der Angelegenheit mehr widmen muß. Wie unter bewandten Umständen in den tieferen Bevölkerungsschichten bei kleinen Industriellen und ihrem Anhang, Händlern, Handwerkern, Gesellen, Lehrlingen, Arbeitern die Dinge weiter verlaufen, verlaufen müssen, erräth leicht auch Einer, der es nie mit angesehen und gehört hat. In der Regel findet zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern kein Ideen¬ austausch statt über allgemeine socialistische Grundsätze, und Erstere spüren nur gelegentlich aus störrischen Benehmen und halben Worten der Leute, welchen Einflüssen sie ihr Ohr geliehen haben. Das ist nicht anders zu erwarten, denn der einzelne Arbeitnehmer weiß oder ahnt, daß hier die empfindlichste Stelle seines Brodherrn liegt und fühlt sehr wohl die Schwäche seiner Stel¬ lung jenem oder dessen Vertreter gegenüber. Kühnheit, Standhaftigkeit, Trotz erwachen im Untergebenen erst, oder gelangen doch wenigstens dann erst zum Ausdruck, wenn er größere Parteigruppen neben sich weiß, wie bei Strikes. Minder häufig, aber doch nicht selten, entspinnen sich jedoch auch Gespräche über diese Dinge, und da geht es denn meistens wieder so zu, wie sich vor¬ aussehen läßt. Anstatt daß der Meister den Gesellen, der Werkführer dem Arbeiter, der Factor dem Setzer, der Prinzipal dem Gehilfen die richtigen Antworten zu geben weiß, wenn dieser seine Parteistichwörter und Phrasen vorbringt, wie „reiche Leute und Freunde der armen Leute, die es gut mit ihnen meinen", „ungerechte Vertheilung der Güter" ;c., „belehrt" der aufge¬ weckte Gesell den Meister, der Arbeiter den Werkführer, der Gehilfe den Prinzipal, der Setzer den Factor über menschenwürdige Existenz, freiheitliche Entwickelung der Neuzeit, Volksvampyre und Schmarotzer:c., denn der Unter¬ gebene ist bereits dialektisch geschult und der Vorgesetzte steht (wie die Ameri¬ kaner sagen) „genonplust" vor ihm. Der Arbeiter liest, wenn er überhaupt liest, nur seine Hetzblätter, die ihm drei, vier oder sechs mal wöchentlich jene „geistige Nahrung" einlöffeln, über deren Beschaffenheit von hundert Bürgern 99 soviel als nichts wissen. „Wozu das ewige Geschimpfe lesen? Das sind ja alte Geschichten, die imer neu auf¬ gewärmt werden. Ich ärgere mich und thun kann ich nichts dagegen." — Gewiß, wäre hier zu erwidern, kannst Du etwas dagegen thun, eben Du, Du Fabrikherr, Werkführer, Meister, Prinzipal, und zwar kannst Du mehr thun, als selbst der Staat mit seiner Polizei, mehr als der Reichstag Grenzboten II. 1876. 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/101>, abgerufen am 27.11.2024.