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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Mühe kostet, sie zu verstehen. Durch Ueberfülle von Worten wird der ein¬
fache Gedanke fast erdrückt; falsches Pathos ermüdet. Selbst das noch am
meisten bekannte Gedicht Vorbei's, ein Chor aus seinem "Lucifer", ist nicht
frei von diesen Fehlern. Dieser Gesang, der von den Holländern als die
Perle Vorbei'scher Poesie gepriesen wird, möge hier theilweise eine Stelle
finden.


Chor der Engel.
Wer thront so hoch,
So tief im unergründlichen Licht,
Nicht durch Zeit, noch Ewigkeit gemessen,
Noch Runden (Nachtwachen) ohne Gegengewicht,
Der allein steht, ohne Stütze von Außen
Geborgt, sondern auf sich selbst ruht,
Und in seinem Wesen kann umfassen
Was um und in Ihm, unbewußt
Von wanken, dreht, und getrieben wird
Um den einen und einzigen Mittelpunkt;
Der Sonnen Sonne, der Geist, das Leben;
Die Seele alles dessen, was Du kannst
Begreifen oder nimmermehr begreifen;
Das Herz, der Brunnen, der Ocean
Und Ursprung von so viel Gutem
Als aus Ihm fließt und besteht.
Und Weisheit, die ihm das Dasein schenkte
Aus nichts, ehe dieser bis zur Spitze vollendete
Pallast, der Himmel Himmel, glänzte;
Wo wir mit Flügeln die Augen bedecken,
Vor allem Glanz der Majestät;
Während wir des Himmels Loblied wecken,
Und fallen, aus Ehrfurcht,
Aus Furcht, in Ohnmacht aufs Antlitz nieder; --
Wer ist es? nennt, beschreibt uns Ihn,
Mit einer Seraphinen - Feder,
Oder fehlt Euch der Begriff und die Stimme?

Ist das nicht betäubende Musik? Wird da nicht der Gedanke durch die
vielen Worte und Bilder, durch die langathmtge Construction, durch falsches
Pathos beeinträchtigt? Ist der Gegensatz in den beiden ersten Strophen: "so
hoch -- so tief" nicht auf ein bloßes Wortspiel berechnet, da wir uns doch
Licht nicht tief und unergründlich denken? Auf Zeit und Ewigkeit "Stunden"
als Klimax folgen zu lassen, ist doch wohl nicht ohne Bedenken. Wirklich!
Nach all den verschiedenartigen, wechselnden Bildern, "fehlt uns der Begriff."
Die komisch-naive Frage der Schlußstrophe kennzeichnet den ersten Eindruck
des Gesanges. Wäre die Vorbei'sche Poesie weniger überschwenglich, weniger


Mühe kostet, sie zu verstehen. Durch Ueberfülle von Worten wird der ein¬
fache Gedanke fast erdrückt; falsches Pathos ermüdet. Selbst das noch am
meisten bekannte Gedicht Vorbei's, ein Chor aus seinem „Lucifer", ist nicht
frei von diesen Fehlern. Dieser Gesang, der von den Holländern als die
Perle Vorbei'scher Poesie gepriesen wird, möge hier theilweise eine Stelle
finden.


Chor der Engel.
Wer thront so hoch,
So tief im unergründlichen Licht,
Nicht durch Zeit, noch Ewigkeit gemessen,
Noch Runden (Nachtwachen) ohne Gegengewicht,
Der allein steht, ohne Stütze von Außen
Geborgt, sondern auf sich selbst ruht,
Und in seinem Wesen kann umfassen
Was um und in Ihm, unbewußt
Von wanken, dreht, und getrieben wird
Um den einen und einzigen Mittelpunkt;
Der Sonnen Sonne, der Geist, das Leben;
Die Seele alles dessen, was Du kannst
Begreifen oder nimmermehr begreifen;
Das Herz, der Brunnen, der Ocean
Und Ursprung von so viel Gutem
Als aus Ihm fließt und besteht.
Und Weisheit, die ihm das Dasein schenkte
Aus nichts, ehe dieser bis zur Spitze vollendete
Pallast, der Himmel Himmel, glänzte;
Wo wir mit Flügeln die Augen bedecken,
Vor allem Glanz der Majestät;
Während wir des Himmels Loblied wecken,
Und fallen, aus Ehrfurcht,
Aus Furcht, in Ohnmacht aufs Antlitz nieder; —
Wer ist es? nennt, beschreibt uns Ihn,
Mit einer Seraphinen - Feder,
Oder fehlt Euch der Begriff und die Stimme?

Ist das nicht betäubende Musik? Wird da nicht der Gedanke durch die
vielen Worte und Bilder, durch die langathmtge Construction, durch falsches
Pathos beeinträchtigt? Ist der Gegensatz in den beiden ersten Strophen: „so
hoch — so tief" nicht auf ein bloßes Wortspiel berechnet, da wir uns doch
Licht nicht tief und unergründlich denken? Auf Zeit und Ewigkeit „Stunden"
als Klimax folgen zu lassen, ist doch wohl nicht ohne Bedenken. Wirklich!
Nach all den verschiedenartigen, wechselnden Bildern, „fehlt uns der Begriff."
Die komisch-naive Frage der Schlußstrophe kennzeichnet den ersten Eindruck
des Gesanges. Wäre die Vorbei'sche Poesie weniger überschwenglich, weniger


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[0010] Mühe kostet, sie zu verstehen. Durch Ueberfülle von Worten wird der ein¬ fache Gedanke fast erdrückt; falsches Pathos ermüdet. Selbst das noch am meisten bekannte Gedicht Vorbei's, ein Chor aus seinem „Lucifer", ist nicht frei von diesen Fehlern. Dieser Gesang, der von den Holländern als die Perle Vorbei'scher Poesie gepriesen wird, möge hier theilweise eine Stelle finden. Chor der Engel. Wer thront so hoch, So tief im unergründlichen Licht, Nicht durch Zeit, noch Ewigkeit gemessen, Noch Runden (Nachtwachen) ohne Gegengewicht, Der allein steht, ohne Stütze von Außen Geborgt, sondern auf sich selbst ruht, Und in seinem Wesen kann umfassen Was um und in Ihm, unbewußt Von wanken, dreht, und getrieben wird Um den einen und einzigen Mittelpunkt; Der Sonnen Sonne, der Geist, das Leben; Die Seele alles dessen, was Du kannst Begreifen oder nimmermehr begreifen; Das Herz, der Brunnen, der Ocean Und Ursprung von so viel Gutem Als aus Ihm fließt und besteht. Und Weisheit, die ihm das Dasein schenkte Aus nichts, ehe dieser bis zur Spitze vollendete Pallast, der Himmel Himmel, glänzte; Wo wir mit Flügeln die Augen bedecken, Vor allem Glanz der Majestät; Während wir des Himmels Loblied wecken, Und fallen, aus Ehrfurcht, Aus Furcht, in Ohnmacht aufs Antlitz nieder; — Wer ist es? nennt, beschreibt uns Ihn, Mit einer Seraphinen - Feder, Oder fehlt Euch der Begriff und die Stimme? Ist das nicht betäubende Musik? Wird da nicht der Gedanke durch die vielen Worte und Bilder, durch die langathmtge Construction, durch falsches Pathos beeinträchtigt? Ist der Gegensatz in den beiden ersten Strophen: „so hoch — so tief" nicht auf ein bloßes Wortspiel berechnet, da wir uns doch Licht nicht tief und unergründlich denken? Auf Zeit und Ewigkeit „Stunden" als Klimax folgen zu lassen, ist doch wohl nicht ohne Bedenken. Wirklich! Nach all den verschiedenartigen, wechselnden Bildern, „fehlt uns der Begriff." Die komisch-naive Frage der Schlußstrophe kennzeichnet den ersten Eindruck des Gesanges. Wäre die Vorbei'sche Poesie weniger überschwenglich, weniger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/10>, abgerufen am 27.11.2024.